Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Tod drohte, falls Ihr Euch weigertet? Wenn Ihr wüsstet, dass jeder weiße Mann Euch jederzeit missbrauchen kann? Oder wenn Ihr nur ein paar kostbare Stunden in der Woche hättet, um mit Euren Kindern zusammen zu sein? Habt Ihr schon einmal über diese Dinge nachgedacht?«
»Nein, das habe ich nicht.« Miss Sophie wurde sehr still. »Du gehst zu Daniel?«
»Ja. Wir werden wieder eine Familie sein, oder ich werde bei dem Versuch mein Leben lassen.« Auf ein Gefühl hin, das ihre Großmutter ihr übermittelte, sagte Adia: »Wenn Ihr versprecht, bis morgen Mittag niemandem zu erzählen, dass ich fort bin, werde ich Euch nicht fesseln. Werdet Ihr mir Euer Wort darauf geben?«
Miss Sophie zögerte zunächst, dann nickte sie. Vielleicht sah sie ein, dass es nach heute Abend nie wieder so wie vorher zwischen ihnen sein könnte. »Ich verspreche, keinen Alarm zu schlagen. Möge Gott dich und deine Familie beschützen, Addie.«
»Danke.« Sie steckte ihr Messer ein. »Und mein Name ist übrigens Adia.« Damit wandte sie sich ab und ging leise die Treppe hinunter.
Auf dem Weg zu den Sklavenunterkünften fragte Adia sich plötzlich, wie viel sie verdient hätte, wenn sie in all diesen Jahren für ihre Arbeit bezahlt worden wäre. Es würde eine ansehnliche Summe sein. Auf jeden Fall genug, um einen Maulesel zu kaufen. Mit diesem Gedanken machte sie einen Umweg zur Koppel, um Daisy, die ruhige Mauleselin, die sie manchmal ritt, einzufangen und zu satteln. Wieder einmal erwies sich ihr Lerneifer als nützlich.
Sie hängte Daisy einen der Zauberbeutel um den Hals, der sie unterwegs davor bewahren sollte, von den Leuten bemerkt zu werden. Dann holte sie ihre schlafende Tochter, umarmte die weise alte Frau und machte sich auf ihre lange Reise in die Freiheit.
Miss Sophie musste ihr Wort gehalten haben, denn Adia wurde nicht sofort verfolgt. Obwohl der Weg zu Daniel lang und ermüdend war, schenkte niemand den Flüchtigen besondere Aufmerksamkeit. Adias Schutzzauber schienen immer wirksamer zu werden. Jetzt, da sie frei war, könnte sie vielleicht sogar einen Lehrer finden, um ihre Magie noch zu verbessern.
Von Tag zu Tag wurde der Wegfinderstein wärmer. Auf ihrer langsamen Reise nach Norden hielten sie sich von den großen Straßen fern und fragten nur hin und wieder Schwarze nach dem Weg. Von den Carolinas nach Virginia, durch Maryland nach New Jersey hinein. Adia hätte sich nie träumen lassen, dass Daniel so weit gekommen war.
Nach wochenlanger Reise erreichten sie den Hudson River und konnten über das Wasser bis zu der großen Stadt New York hinüberschauen. Den ganzen Tag über verbargen sie sich im Schilf und überquerten den Fluss in jener Nacht mit einem am Ufer liegenden Ruderboot, das Adia gefunden und gestohlen hatte. Die treue Mauleselin schwamm hinter ihnen her, während Adia mühevoll das Rudern lernte und gegen die starke Strömung ankämpfte. Bleib bei uns, Großmutter!
Als die Sonne aufging, erreichten sie die Insel Manhattan. Ein schwarzer Pionier, der Feuerholz für die britische Armee hackte, wies ihnen den Weg zu einem Feldlager. Der Wegfinderstein schien plötzlich Adias Haut zu versengen, als sie die Mauleselin in das weitläufige Lager führte. Molly saß in dem durchnässten Sattel und war müde, aber aufgeregt. Ein ganzer Teil des Lagers war von schwarzen Soldaten belegt. Müde bis auf die Knochen und nicht sicher, was sie als Nächstes tun sollte, hielt Adia ihr Reittier an.
Und dann erschallte ein lauter Jubelruf durch das Camp, und Adia sah eine vertraute, kräftige Gestalt in ihre Richtung laufen. Ihr Daniel war ein Sergeant, sah sie voller Stolz. Und sein Gesicht strahlte von derselben Freude, die auch sie zu überwältigen drohte. Als sie sich in seine Arme warf und er Molly und sie an sich zog, sagte sie mit zitternder Stimme: »Wir werden uns nie wieder trennen, Liebster.«
»Nie wieder«, bekräftigte er mit Tränen in den Augen und brach ihr fast die Rippen mit seiner Umarmung. »Nie, nie wieder.«
15. Kapitel
D
ie schottische Hexe brach zusammen und fiel aufs Deck. Obwohl Nikolais Handgelenk von ihren Fingernägeln blutete, sah sie so zerbrechlich aus wie ein Kind.
Aber sie hatte es geschafft. Der Wind hatte sich fast vollständig gelegt, und Nikolais angeschlagenes Schiff trieb wieder halbwegs ruhig auf den Wellen.
Er bückte sich und stolperte beinahe. Auch er war so geschwächt, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Indem er sich am Türrahmen
Weitere Kostenlose Bücher