Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
festhielt, gelang es ihm, sich hinzuknien, doch als er nach einem Puls an Jean Macraes Kehle suchte, fand er keinen.
»Was ist passiert, Captain?«
Er blickte auf zu Tano, der durchnässt und angeschlagen, aber ansonsten unversehrt war. Wenn nötig, war Tano als Schiffsarzt tätig, und er hatte ein unheimliches Gespür dafür zu erscheinen, wenn er gebraucht wurde. Er verstand auch etwas von Magie, da er selbst ein wenig magische Fähigkeiten besaß. »Diese Frau ist eine Wettermagierin«, brummte Nikolai. »Sie hat das Schiff gerettet, aber sie hätte sich dabei umbringen können. Kannst du etwas für sie tun?«
Tano runzelte die Stirn, als er sich neben der bewusstlosen jungen Frau hinkniete. Nachdem er ihren Puls gesucht hatte, vertiefte sich die Falte zwischen seinen Brauen noch. Er zog sein Messer und hielt die Klinge vor ihre Lippen. Sie beschlug ein wenig, sah er. »Sie lebt, aber nur gerade noch. Ein großes magisches Werk erschöpft den Körper und die Seele. Sie hat sich aufgezehrt wie eine Kerze.« Tano blickte auf. »Und du siehst auch nicht gut aus, Captain. Hast du ihr geholfen?«
Nikolai nickte. Selbst diese kleine Anstrengung war schon fast zu viel. »Sie sagte, sie hätte nicht genügend Macht und bräuchte etwas von der meinen. Während sie den Sturm bekämpfte, drang sie in mein Bewusstsein ein und ... und nahm mir meine ganze Kraft.«
»Einen so furchtbaren Sturm zu brechen, muss enorme Magie erfordert haben. Sie braucht jetzt sehr viel Ruhe und gute Nahrung.«
In der Hoffnung, dass sie gerettet werden konnte, beugte Nikolai sich vor, um sie aufzuheben, und fiel prompt fast wieder hin.
Tano murmelte einen Fluch in seiner Sprache, bevor er sagte: »Sei kein Narr - du brauchst genauso viel Ruhe wie sie. Ich werde mich um sie kümmern. Sowie sie etwas Brühe zu sich genommen hat, komme ich zu deiner Kabine.« Er verengte misstrauisch die Augen. »Du wirst dann doch in deiner Koje liegen?«
Es war ein Anzeichen seiner Erschöpfung, dass Nikolai nicht einmal widersprach. Im Moment hätte die Schiffskatze ihn außer Gefecht setzen können. Wieder griff er nach dem Türrahmen des Steuerhauses und richtete sich langsam auf.
Tano hob vorsichtig die kleine Hexe auf und trug sie zu der Luke, wo er sie auf dem schwierigen Abstieg über die Leiter stützte. Sie war in guten Händen, auch wenn Nikolai das Gefühl hatte, dass er verantwortlich für sie war und er derjenige sein sollte, der sie pflegte.
Als er Tano hinunterfolgte, dachte er, dass er nicht mehr so müde gewesen war, seit er der Sklaverei entkommen war. Aber er war auch wie berauscht vor Freude. Er hatte mit Magie gearbeitet, so gut er konnte, seit Macrae ihm die Augen für seine Möglichkeiten geöffnet hatte. Doch noch nie zuvor war er Teil einer solch beeindruckenden Manifestation von Macht gewesen. Er war am Ufer entlanggepaddelt, und Jean Macrae hatte ihm die Tiefen des Ozeans gezeigt.
Nun, da er wahre Macht gekostet hatte, wollte er mehr davon.
Nach einer Ewigkeit voller seltsamer Träume vom Ertrinken erwachte Jean mit dem Gefühl, eine sehr, sehr lange Reise hinter sich zu haben. Sie war nicht mehr auf dem Schiff, sondern lag in einem bequemen Bett in einem Zimmer mit strahlend weiß gekalkten Wänden. Goldener Sonnenschein strömte durch ein Fenster mit halb geöffneten Jalousien, und draußen waren Blumen zu erkennen. Eine Tür führte in diesen einladenden Sonnenschein hinaus und eine andere ins Haus.
Vorsichtig, weil ihr so schwindlig war, setzte sie sich auf. Sie trug ein Hemd, das ihr zu lang war. War sie auf Santola? Der Tisch, die Stühle und die Truhe waren aus einfachem Holz, aber von einer schlichten Eleganz, die sie an ein kleines Highland-Gut erinnerte. Ein Steinkrug enthielt einen Strauß farbenfroher Blumen, und das Bett war mit einer weichen, bunten Flickensteppdecke bedeckt, was dem Zimmer eine anheimelnde Atmosphäre verlieh.
Dagegen war der reich gemusterte Orientteppich, der auf dem Kachelboden lag, erstaunlich luxuriös. Die Beute eines Piraten vielleicht.
Jean stieg aus dem Bett und fand ein schlicht geschnittenes Kleid aus blauem Gingan über einer Stuhllehne. Es war ähnlich formlos wie ein Hemd, aber sie fühlte sich angezogener, als sie es überstreifte. Darunter lagen ihr Messer und der Wahrsagespiegel, noch immer gut verwahrt in seinem Beutel. Sie nahm die Obsidianscheibe heraus und ließ sie einen Moment auf ihrer flachen Hand liegen. Anscheinend hatte kein Fremder sie berührt, wofür Jean
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