Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Jean sah Leute in Höfen arbeiten oder durch die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen gehen. Robuste kleine Esel mit Strohhüten trugen geduldig Lasten den Berg hinauf, während Kinder unterschiedlichster Hautfarbe, von nordischer Blässe bis zu tiefem Ebenholz, in der Nähe des Hafens Fangen spielten.
Der Steilheit der Berge wegen, die die Caldera umgaben, waren die hinter dem Dorf erkennbaren Felder terrassenförmig angelegt. Auf den Hängen darüber grasten Schafe und Ziegen. Santola schien nicht nur seinen Nahrungsbedarf selbst zu decken, sondern darüber hinaus auch ziemlich wohlhabend zu sein. »Ich bin im Paradies gelandet«, sagte Jean beeindruckt.
»Das finden wir auch«, pflichtete ihr Tano bei, bevor er sich leise zurückzog.
Froh, allein zu sein, setzte Jean sich auf eine Bank unter dem Vordach. Im Hochsommer musste die Insel heiß und trocken sein, und an einem spätwinterlichen Tag wie heute herrschte eine immer noch sehr angenehme Wärme. Tief unten konnte sie die Justice sehen, die zu Reparaturen in einem Trockendock lag. Der ausgezackte Stumpf des Hauptmastes war entfernt worden, und an Deck wimmelte es von Männern, die Reparaturen durchführten. Jean beschattete ihre Augen und fragte sich, ob wohl auch Gregorio dort unten war.
Aber er würde sich bestimmt bald bei ihr sehen lassen. Müßig blickte sie zu der Caldera hinaus und beobachtete ein kleines Segelboot. Sie fühlte sich leer und nicht ganz mit der Welt verbunden, was sicher von dem gewaltigen Energieaufwand in der Nacht des Sturms herrührte. Es würde Zeit erfordern, die Quelle ihrer Macht wieder aufzufüllen, auch wenn dieser Prozess bereits begonnen hatte.
Bei der Bekämpfung des Sturms hatte sie mehr Macht verbraucht, als sie zu besitzen geglaubt hatte. Verschiedene Lehrer und Magier hatten ihr im Laufe der Jahre gesagt, sie verfüge über sehr viel Macht - sie verstehe sie nur nicht anzuwenden. Das hatte sich als enttäuschend wahr erwiesen.
Denn obwohl sie das Anwachsen der Macht in sich gespürt hatte, war ihr wenig Erfolg bei ihrer Anwendung beschieden gewesen. Selbst einfache magische Aufgaben waren für sie in etwa so, wie mit einem eingeölten Schwein zu ringen - ihre Macht konnte sich in alle Richtungen versprengen. Und oft konnte sie sie nicht einmal in Bewegung setzen. Irgendwann hatte sie aufgehört, sich mit ihren Unzulänglichkeiten auf dem Gebiet der Magie zu quälen, und sich auf die Verwaltung des Familienbesitzes konzentriert.
Nach der Heirat ihres Bruders hatte sie mit seiner Frau Gwynne, deren Macht sich erst spät entfaltet hatte, ein wenig mit Magie befasst. Jean war dadurch in einigen der grundlegendsten Fähigkeiten wie dem Wahrsagen ein bisschen besser geworden, doch Gwynne hatte sie in allen Bereichen sehr schnell überrundet.
Mit Ausnahme der Zeit, als Jean die überlebenden Macrae'schen Rebellen von Culloden heimgeführt hatte. Ihre Flucht war ungeheuer strapaziös gewesen, weil Hannoveranertruppen den Jakobiten nachgejagt waren, die dem Schlachtfeld entkommen waren. Die Macraes hätten es nie nach Dunrath zurückgeschafft, wenn es Jean nicht irgendwie gelungen wäre, Fehlleitungs- und Täuschungszauber zu wirken, um ihre Männer zu beschützen. Pure Verzweiflung hatte sie dazu getrieben, denn unter normalen Umständen hätte sie nie solch machtvolle Magie anwenden können.
Nach Culloden hatte sie in aller Stille mit ihren Fähigkeiten experimentiert und zu ihrer Enttäuschung feststellen müssen, dass sie so ungeschickt wie eh und je war. Deshalb war sie nach London gereist, um ihren Verwandten eine Freude zu machen und die Magie, bis auf die geringfügigsten und alltäglichsten Zaubersprüche, beiseitezulassen.
So standen die Dinge bis zur Nacht der Sturms. Und wieder hatte Verzweiflung ihr in jener Nacht die Fähigkeit verliehen, größere magische Ressourcen anzuzapfen. Natürlich war ein Teil davon auf die Zusammenarbeit mit Gregorio zurückzuführen - sie schienen sich auf eine machtvolle, ja fast schon alarmierende Weise gegenseitig zu beflügeln.
Ein markerschütterndes Kreischen riss Jean aus ihren Gedanken. Ein riesiger dunkler Schatten schoss über ihren Kopf, und sie duckte sich erschrocken und fragte sich, ob es Riesenfledermäuse auf der Insel gab. Aber dann blinzelte sie verblüfft, als sie merkte, dass es ein sehr großer, blauer Papagei war, der seine glänzenden Schwingen spreizte und anmutig auf dem Zaun über der Mauer landete. Das Tier war von überwältigender Schönheit, doch
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