Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
dankbar war. Sie überlegte, ob sie sie benutzen sollte, um mehr über ihre Lage herauszufinden, fühlte sich dann aber doch zu ausgelaugt für den Versuch.
Nachdem sie Wahrsageglas und Messer eingesteckt hatte, sah sie sich den Krug und die Schale auf dem Tisch an. Sie waren nicht zum Waschen gedacht, sondern enthielten Nahrung - der Krug war mit frischer Milch gefüllt, und in der Schale lag ein mit einem Stofftuch zugedecktes halbes Brot. Jean goss etwas Milch in die Schale und tunkte ein Stück Brot hinein. Ihr ausgedörrter Mund begrüßte die Feuchtigkeit, und ihr nagender Hunger führte ihr vor Augen, dass sie in letzter Zeit nicht viel gegessen hatte.
Als sie das leise Quietschen einer Tür hörte, blickte sie auf und sah den Afrikaner, der mit Gregorio in Marseille gewesen war. Es war schwer, sein Alter zu erraten. Sein Gesicht war glatt, aber seine Augen waren nicht jung. »Ihr seid wach«, stellte er fest. »Das freut mich. Eine Zeit lang war ich mir nicht sicher, ob Ihr je wieder erwachen würdet.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Dreieinhalb Tage. Da Ihr nur Wasser und Brühe zu Euch genommen habt, müsst Ihr hungrig sein, doch es wäre besser, wenn Ihr nicht zu schnell essen würdet.«
Dreieinhalb Tage! Kein Wunder, dass sie sich wie nach einer langen Reise fühlte! Da sich schon ein Sättigungsgefühl einstellte, schob sie die Schale weg. »Ich bin Jean Macrae, aber das wissen Sie bereits, glaube ich.«
Er nickte. »Ich bin Tano. An Bord des Schiffes spiele ich manchmal den Doktor, wenn es nötig ist, doch hier auf der Insel haben wir bessere Ärzte, falls Ihr Pflege braucht.«
»Ich bin müde, aber abgesehen davon geht es mir gut.« Sie betrachtete sein ruhiges Gesicht. »Sie sprechen sehr gut Englisch.«
»Ich habe die Sprache auf Jamaika gelernt. Da ich sie so gut sprach, wurde ich aus der Zuckermühle herausgenommen und ausgebildet, um der Sekretär des Aufsehers zu werden.«
Jean starrte ihn an und erinnerte sich an Gregorios Schauergeschichten von den westindischen Plantagen. »Ich bin froh, dass Sie nicht mehr dort sind.«
»Ich auch«, stimmte er ihr mit einem leicht ironischen Blick aus seinen dunklen Augen zu.
Nicht sicher, was sie einem Mann sagen sollte, der die Hölle überlebt hatte, fragte sie: »Haben das Schiff und die Besatzung den Sturm gut überstanden?« Dann dachte sie daran, wie viel Energie sie Gregorio hatte entnehmen müssen. »Und wie geht es dem Captain?«
»Alle sind wohlauf. Der Hauptmast brach, und der Captain war fast so erschöpft wie Ihr, aber er erholte sich schnell genug, um die Justice heimzubringen. Habt Ihr Santola schon gesehen?«
Als Jean den Kopf schüttelte, durchquerte Tano den Raum und öffnete weit die Tür, die auf eine wunderschöne Terrasse mit üppigen, farbenfrohen Blumen in großen Tongefäßen führte. »Seht Euch unseren Zufluchtsort ruhig an.«
Jean, die sich nach dem Essen schon ein wenig kräftiger fühlte, ging hinaus, wo sie verblüfft den Schritt verhielt, bezaubert von dem glitzernden Lichtkreis vor ihr. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass der Kreis wie eine riesige, von zerklüfteten dunklen Inseln umgebene Schale mit türkisfarbenem Wasser war.
Es war ein solch bemerkenswerter Anblick, dass Jean einen Moment brauchte, um zu begreifen, was sie sah. »Santola ist der Krater eines uralten Vulkans, nicht wahr? Ich habe Zeichnungen von der griechischen Insel Santorini gesehen, und die sieht genauso aus. Ein Vulkan brach aus und hinterließ einen Kreis von Inseln um den Krater. Man nennt das ... eine Caldera, glaube ich?«
»Sehr gut, Miss Jean.« Tano nickte anerkennend. »Der Vulkan, der Santola entstehen ließ, machte die Erde fruchtbar und erzeugte Sandbänke, die uns vor ungebetenen Besuchern schützen.«
Mit Magie verknüpfte Untiefen, vermutete Jean, da sie das entfernte Summen eines schützenden Energiefeldes spüren konnte. Die Terrasse mit den farbenfrohen Blumenkübeln und überdachten Flächen, die Schatten vor der heißen Sonne boten, erinnerte sie an die Innenhöfe des Fontaine'schen Haushalts in Marseille.
Jean ging über die Terrasse zu der Mauer und blickte auf ein großes, malerisches, im mediterranen Stil erbautes Dorf herab. Weiß getünchte Häuser mit lebhaften Farbakzenten aus bunt gestrichenen Holzarbeiten und Blumen schlängelten sich an der steilen Anhöhe hinauf.
Das Anwesen, auf dem sie sich befand, lag ganz oben über dem Dorf, hoch genug, um auf Dutzende anderer Gebäude herabzublicken.
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