Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
ein weitaus schlimmeres Schicksal ist als nur der Tod. Du musst es nicht tun, kann ich dir nur noch einmal sagen.«
»Wirst du mich auch durch die Zeit schicken, wenn ich uneingeweiht bin?« Adias bekümmerte Miene war beredt genug. »Na also. Dann werde ich es versuchen und mein Bestes tun, um nicht zu denken.«
»Nicht zu denken, ist eins der schwierigsten Dinge, die jemand versuchen kann.«
»Das habe ich heute Nachmittag gemerkt«, erwiderte er trocken. »Wo ist der Versammlungsort der Afrikaner, den ich zu der heutigen Zeremonie aufsuchen muss?«
»Tano wird dich bei Einbruch der Dunkelheit hier abholen und hinbringen.« Adia lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Und ich werde jetzt noch ein bisschen schlafen. Die Nacht wird anstrengend.«
Nikolai stand auf. Da nicht auszuschließen war, dass er bei seiner Initiation sterben würde, musste er vorher mit Jean sprechen. Auch wenn er sich gar nicht sicher war, was er ihr sagen sollte.
Jean saß stirnrunzelnd vor einem Brief, als es an ihrer Tür klopfte. »Herein«, rief sie.
Es war Nikolai, und er sah groß, dunkel, ernst und feierlich aus. »Adia hat beschlossen, mich schon heute Abend ins Unbekannte loszuschicken«, sagte er ohne Einleitung. »Ich dachte, ich sollte mich von dir verabschieden, falls ihre schlimmsten Prophezeiungen sich als wahr erweisen sollten.«
Von heftiger Nervosität gepackt, legte Jean ihre Feder weg. Nikolais dunkles Gesicht war ruhig, aber die Anspannung, die ihn beherrschte, war dennoch nicht zu übersehen. Er war nicht wirklich ängstlich, glaubte sie, doch selbst der kühnste Mann hatte ein gesundes Misstrauen dem Unbekannten gegenüber. »Das kommt mir aber sehr plötzlich vor. Ich dachte, sie würde sich mehr Zeit dafür nehmen, dich zu lehren, wie ein Afrikaner zu denken.«
»Sie meint, ich denke schon zu viel, und je weniger ich dächte, desto besser.« Statt sich hinzusetzen, ging er zu einem Fenster und blickte auf die Caldera hinaus, deren Wasser in der späten Nachmittagssonne wie Bronze schimmerte. »Hat sie recht bezüglich der Gefahren?«
Also war er hergekommen, um sich Mut machen zu lassen. »Ich weiß nichts über afrikanische Initiationen, aber man lehrte mich, dass neben der uns bekannten Welt auch dunkle Energien existieren. Geister, Dämonen, Kreaturen - nenn sie, wie du willst, doch sie können uns Schaden zufügen.«
Jean überlegte, was noch gesagt werden musste. »Unser Geist und Körper sind miteinander verbunden, aber zugleich auch eigenständig. Wenn der Geist auf Reisen geht, besteht Gefahr, dass er vielleicht nicht mehr den Weg zurück findet. Oder dass er von einer der Kreaturen aus dem Geisterreich angegriffen wird. Beides könnte dazu führen, dass der Körper stirbt.«
»Und dann ist der Geist dazu verdammt, ewige Qualen zu erleiden?«, fragte Nikolai ein bisschen spöttisch.
»Dazu kann ich dir nichts sagen. Nur wenige Wächter bewegen sich regelmäßig auf inneren Ebenen, und ich weiß von keinem, der dabei gestorben ist. Aber ... unmöglich ist es nicht.«
»An Geister und Dämonen zu glauben, wäre leichter, wenn ich gläubig wäre.« Nikolai starrte mit unbewegter Miene aus dem Fenster.
Wahrscheinlich würde er die Vorstellung nicht begrüßen, dass die Initiation einen Gläubigen aus ihm machen könnte, vermutete Jean - doch das musste er schon selbst herausfinden. Aber welchen nützlichen Rat könnte sie ihm sonst noch mitgeben?
Sie dachte an die Zeremonien, denen sie beim Eintritt ins Erwachsenenalter unterzogen worden war. »Wenn dein Geist so weit reist, dass Gefahr besteht, nicht mehr zurückkehren zu können, versuch, an das zu denken, was dein tiefstes Ich ausmacht. Der Captain, der Beschützer, der Außenseiter - erkenne, was die Essenz des Nikolai Gregorio ist. Das könnte dir helfen, Körper und Seele wieder zusammenzubringen, falls sie getrennt werden.«
Nikolai wandte sich vom Fenster ab. »Ich höre die Worte zwar, aber auf irgendeiner Ebene scheinen sie so bedeutungslos wie ein Kinderreim zu sein.«
»Ich denke, die Worte werden bei der Initiation lebendig werden.«
Nikolai zuckte die Schultern, als akzeptierte er ihre Antwort, glaubte sie jedoch nicht. »Woran arbeitest du?«
»Ich schreibe Briefe an meine Freunde in Frankreich und meine Familie.« Sie zeigte auf die vielen, schon mit ihrer schönen, sauberen Schrift bedeckten Blätter. »Mit Adias Hilfe ist es mir gelungen, geistigen Kontakt zu meinen Freunden und meinem Bruder aufzunehmen, um sie wissen zu
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