Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
einem anderen Trommler die Führung zu überlassen.
Irgendwann veränderte sich jedoch der Rhythmus, und ein Schrei zerriss die Nacht. Es war Adia, die in den Kreis tanzte, bemerkte Nikolai, als er die Augen öffnete. Er erkannte sie mehr an ihrer Energie als an ihrer Erscheinung, denn sie war nackt bis auf die Perlen, die sie trug, und ein skelettartiges Muster war in weißer Farbe auf ihre dunkle Haut gemalt. Sie wirbelte ein paar Mal in dem Kreis herum, bevor sie innehielt und mit beiden Händen auf das Feuer zeigte. Augenblicklich nahmen die Flammen einen violetten Farbton an und loderten höher auf, als Nikolai es bei einem Feuer je gesehen hatte.
Das violette Licht blendete und machte es fast unmöglich, irgendetwas anderes zu sehen. Nichts schützte vor diesem grellen Licht, nicht einmal, die Augen zu schließen. Nikolai öffnete sie wieder, und seine Sinne erfüllten sich mit dem Licht und dem hypnotischen Geräusch der Trommeln. Allmählich begann er, aus den Augenwinkeln kaum merkliche Bewegungen wahrzunehmen, die jedoch sofort wieder aufhörten, wenn er in ihre Richtung schaute.
Er zwang sich, stillzusitzen und abzuwarten. Plötzlich erkannte er, dass er kleine Männer und Frauen sah, die höchstens sechzig Zentimeter groß waren. Sie waren unverkennbar Afrikaner, dunkelhäutig und mit den schlichten Umschlagetüchern des Schwarzen Kontinents bekleidet. Waren sie die Vorfahren? Möglich. Oder vielleicht waren sie auch nur eine andere Art von Wesen, die Seelen, aber keine Körper besaßen. Einer, ein alter Mann, kam auf ihn zu. Er drang durch ihn hindurch, und Nikolai brach der kalte Schweiß aus.
Adia begann, in einer Sprache zu sprechen, die Nikolai nicht bestimmen konnte. Die Laute waren alt und primitiv, als wäre dies die erste von der Menschheit gesprochene Sprache. Ihre Stimme hob und senkte sich. Manchmal war sie so leise, dass sie von den Trommeln übertönt wurde, dann wieder so kraftvoll, dass sie von dem Lavagestein Santolas widerhallte. Die kleinen Wesen umringten und beobachteten sie, tanzten zu dem Klang ihrer Stimme und dem Rhythmus der Trommeln und verwoben sich zu hypnotisierenden Mustern.
Nikolai merkte, dass ihm der Schweiß den Körper herunterlief. Zum Teil mochte das an der Hitze des Feuers liegen, dessen lodernde Flammen noch immer turmhoch aufloderten und ein viel helleres Licht abgaben, als Brennholz eigentlich erzeugen konnte. Aber auch Adia strahlte Hitze aus, eine menschliche Hitze, die noch machtvoller als die der Flammen war.
Sie hob die Hand, und er sah, dass sie darin einen langen, am Ende mit Perlen und Federn geschmückten Holzstab trug. Hatte sie ihn schon die ganze Zeit gehabt, oder war er aus dem Nichts heraus erschienen?
Adia rief etwas, das wie ein Befehl klang, und drei der in dem Kreis sitzenden Leute erhoben sich und traten zu ihr. Es waren zwei Männer und eine Frau, und alle waren mit dem gleichen weißen Skelett wie Adias bemalt. Einer der Männer war ein Halbblut mit deutlich hellerer Haut als die der anderen. Nikolai war froh zu sehen, dass auch ein nicht reinblütiger Afrikaner priesterliche Macht erlangen konnte.
Dann zeigte Adia mit ihrem Stab auf Nikolai. Ohne einen Befehl hören zu müssen, wusste er, dass es eine Aufforderung war, zu ihr zu kommen. Er stand auf und ging zu ihr. Die vier Priester umringten ihn, und umgeben von dem Dröhnen der Trommeln, verließen sie zusammen den Versammlungsort.
Nikolai konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, als sie im Freien und etwas weiter von dem Trommeln entfernt waren. Der Rest der Insel lag in tiefer Stille da, und nur hier und da war ein Lichtschimmer aus dem Dorf zu sehen. Nikolai hatte Santola mit seiner magischen Intuition entdeckt und geglaubt, er kenne jeden Quadratmeter der Insel, doch nun hatte er das Gefühl, als wäre er in ein ihm völlig fremdes Land versetzt worden. War dies die andere Welt, von der Adia gesprochen hatte?
Nein, Santola hatte sich nicht verändert, er selbst war es, der aus seinem üblichen Bewusstseinsstand herausgetreten war. Er kam sich wie ein von seinem Körper losgelöster Beobachter vor, als die kleine Gruppe den Strand erreichte. Ein schmales, grob aus einem Stamm herausgeschlagenes Kanu lag dort auf dem schwarzen Sand. Nikolai hatte nicht einmal gewusst, dass es ein solches Fahrzeug auf der Insel gab. Es wurde immer offensichtlicher, dass er weniger über Santola wusste, als er gedacht hatte.
Die beiden Priester ließen das Kanu zu Wasser. Nikolai wollte
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