Die Statisten - Roman
Tür, wusch sich und zog sich um. Sie hatte schon so lange keinen Acht-Meter-Sari mehr getragen, dass sie eine Weile brauchte, um ihn auf die richtige, traditionelle Weise anzulegen. Ravan hatte recht, sie sollten sich wirklich einen Ganzkörperspiegel zulegen. Fürs Erste aber würde das kleine Ding an der Wand, das sie seit ihrer Hochzeit benutzte, eben reichen müssen. Es war ohnehin nicht ihre Art, sich minutenlang im Spiegel zu begaffen, und sie hatte mit Sicherheit weder die Zeit noch die Neigung, sich zu schminken. Selbst heute, wo so viel von ihrer Erscheinung abhing, begnügte sie sich damit, den safranroten Punkt sorgfältig in die Mitte ihrer Stirn zu tupfen, und bedeckte dann ihren Kopf mit dem Pallu des Saris. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel; das satte Dunkelgrün des Saris tönte ihre helle Haut, und sie schien von innen her zu glühen.
Ravan und Eddie waren zur Junior Artistesâ Association in Saat Rasta gefahren, um zu sehen, ob sie eventuell einen Job an Land ziehen konnten. Parvati-bai hielt es für ein gutes Omen, dass ihr Sohn und der Junge vom Obergeschoss sich miteinander angefreundet hatten. Shankar-rao hielt gerade sein vormittägliches Nickerchen. Nicht nötig, ihm zu erzählen, wohin sie ging und was sie dort vorhatte. Sie nahm den Teller mit den Divali-Leckereien, die sie mit besonderer Sorgfalt zubereitet hatte, und stieg die Treppe hinauf. Sie wohnte seit über zwanzig Jahren in diesem Haus, und doch war sie noch nie im fünften Stock gewesen. Es sah dort fast genau so wie im vierten aus, nur dass dort nicht Divali gefeiert wurde und an den meisten Türrahmen â anstelle der auf einer Schnur aufgefädelten grünen Chilis und Limetten (zur Abwehr böser Geister) und des über dem Sturz angebrachten Ganesh-Bildes â ein Kreuz angenagelt war. Sie sprach ein Gebet zum Familiengott Khandoba, bat ihn um seinen Segen und klopfte an die Tür der Coutinhos.
Violet traute ihren Augen nicht. Sie trug seit Kurzem eine Bifokalbrille, und die erzeugte zwischen den gleichzeitigen Realitäten des Fern- und des Nahbereichs eine dritte Art von gebrochenem Raum. Mitunter hatte sie das Gefühl, auf einer Wippe zu sitzen oder in einem Boot auf schaukelnder See. Der Boden schwankte, und die Dinge und Menschen vor ihr zersplitterten und zerflossen und setzten sich neu zusammen wie bunte Scherben in einem Kaleidoskop. Sie hielt sich an der Tür fest, um das Gleichgewicht zu wahren, und starrte Parvati-bai verständnislos an. Langsam sickerte es in ihr Bewusstsein, dass dies der letzte Mensch war, mit dem ihr Mann in seinem Leben gesprochen hatte. Seltsame, gequälte unterirdische Laute entrangen sich ihrer Kehle. Sie waren kaum zu vernehmen, diese schmerzvollen Schluck- und Schnarchgeräusche, die aus den Tiefen des Bauches der Erde zu kommen schienen. Sie sah aus wie ein in die Enge getriebenes Tier; sie bekam kaum Atem und schien die Sprachfähigkeit eingebüÃt zu haben.
âIch bin hier, um Ihnen eine sehr glückliche Divali zu wünschenâ, sagte Parvati-bai. Obwohl sie im selben Haus und auf angrenzenden Stockwerken wohnten, bekam sie Violet so gut wie nie zu Gesicht. Sie hatte vergessen, wie schön Eddies und Pietas Mutter war. Wie zart sie gebaut war! Sie trug weder Rouge noch Lippenstift, und wenngleich auch sie gealtert war, hatte ihre Haut die Farbe von sonnendurchflutetem Honig. Sie trug ein gewöhnliches Kleid; es war gut geschnitten, aber das warâs auch schon, und dennoch waren ihre aristokratische Haltung und die Feinheit ihres Knochenbaus nicht zu verkennen. Alles, was sie tat, jede Geste, die Art, wie sie die Tür öffnete, wie sie sich gab, lieà sie so würdevoll und sanft erscheinen, dass Parvati einen Moment lang wünschte, sie könnten Freundinnen sein. âSie feiern das Fest nicht, ich weiÃ, aber es ist ein freudiger Anlass, und ich wollte ihn einfach mit Ihnen und Ihrer Familie teilen.â
Violet starrte den mit einem groÃen goldgesäumten Kunstfasertuch bedeckten Teller an, als kauerte der Leibhaftige unter dem Tuch, bereit, sie anzuspringen und ihre Seele zu rauben. Inzwischen zitterte sie unbeherrscht. Es war schwer zu sagen, ob sie wütend war und wenn, auf wen, oder ob sie von alten Erinnerungen gepeinigt wurde.
âIiiiiiiiiiiiiiiih!â Sie stieà leise, furchterregende, klagende Laute aus. Es war, als versuchte sie, mit fernen
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