Die Statisten - Roman
jemanden wie ihn gegeben, und höchstwahrscheinlich wird er nie einen Konkurrenten haben. Er ist wirklich und wahrhaftig einmalig in seiner Art. Seinem Publikum ist es völlig egal, dass er kaum noch eigene Haare auf dem Kopf hat und die lächerlichsten Perücken trägt, die man sich vorstellen kann; dass seine Schauspielkunst von einem anderen Stern stammt und aus einem Sortiment von Manierismen, Schrullen und absurden Absonderlichkeiten besteht, die nicht das Allergeringste mit dem Kontext, der Situation und dem Film zu tun haben, in dem er gerade agiert.
Wenn er sich eine Zigarette ansteckt, schlägt das Streichholz einen dreifachen Salto, entzündet den Tabak und schwebt so lange in der Luft, bis Rajinikanth dem Zuschauer einen vernichtenden Blick zugesandt hat, in etwa von der Art: âMach mir das erst mal nach, Junge!â Rajini, der eine Münze waagrecht hin und her wirft, bis sie endlich in seine Brusttasche fällt; Rajini, der sich die Sonnenbrille rund um den Kopf schiebt; Rajini, der verschwindet, nachdem er den Schurken hinter Gitter gebracht hat; alles, aber auch alles, was Rajini tut, ist Stil pur. Aber das, wodurch er jeden anderen Schauspieler turmhoch überragt, ist seine Fähigkeit, den emotionalen Gehalt seiner Filme so weit zu übersteigern, dass die Zuschauer sich jeden Augenblick, in dem er auf der Leinwand zu sehen ist, wie in einem Drogenrausch befinden. Das ist Leben in Höchstspannung, bis zur WeiÃglut aufgeheizt und ständig kurz vor der Kernschmelze. Stets taumelt man am Rande des Abgrunds, schwankt von einer lebensbedrohlichen Situation zur nächsten. Ah, die Cliffhanger-Qual und -Ekstase des Ganzen! Das ist das wahre Leben! Oder zumindest das wahre Leben, wie es sein sollte.
Es gibt Hunderte von Rajini-Witzen, die auf seine Kühnheit, seinen Stil, seine Allmacht und seine unüberwindliche Körperkraft abheben. âDie Evolution ist ein Märchen; sie ist lediglich eine Liste von Lebewesen, die Rajinikanth am Leben gelassen hat.â âR. kann dich mit einem Schnurlostelefon erdrosseln.â âEr bringt selbst Zwiebeln zum Weinen.â âR. geriet mal in eine Messerstecherei. Das Messer hat verloren.â âEs gibt keine Massenvernichtungswaffen im Irak; Rajinikanth lebt in Chennai.â âEr nimmt keine Duschen; er nimmt nur Blutbäder.â
Man könnte beliebig weitermachen. Die schlauen Collegejungs bilden sich vielleicht ein, sie würden sich damit auf Rajinis Kosten amüsieren. Doch die Angeschmierten sind sie selbst.
18
Pieta wartete darauf, dass Ravan ins Taxi einstieg, und setzte sich dann neben ihn. Sie konnte ihre Wut kaum beherrschen. âWorauf warten Sie noch? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!â
Ravan hatte sich so lange vor Sorge verzehrt, dass dort, wo normalerweise das Herz ist, bei ihm nur noch ein Loch war, und er hatte sich die Gedärme (jeweils von beiden Enden) um elf Zentimeter pro Tag verbrannt und sein Gehirn in pürierten Brei verwandelt. Und da stand nun diese Frau, die in seinem Körper und seinem Geist solches Chaos angerichtet hatte, aus unerfindlichen Gründen mit ihm auf KriegsfuÃ. Ihm ging allmählich auf, dass die Art von Liebe, die nur in eine Richtung läuft, wahrscheinlich die ernüchterndste Erfahrung im Leben überhaupt ist. Sie sagte einem klipp und klar, dass man keines zweiten Blickes würdig war, dass man es nicht verdiente, geliebt zu werden. Sie machte es ihm unmöglich, sich selbst zu mögen. Und das Schlimmste daran war, dass er kaum etwas unternehmen konnte, um die Situation zu ändern, da sie untrennbar mit ihm verbunden war.
Er wusste selbst nicht genau, weshalb, aber diese Selbstverachtung beeinträchtigte ihn zunehmend bei der Schauspielerei. Er hatte das Gefühl, die Grundvoraussetzung fürs Schauspielern sei, sich â unter Umständen maÃlos â selbst zu mögen. Ravans Schauspiellehrer Krishna Kumar hatte gesagt, ein Schauspieler versuche stets, sich in andere Personen zu flüchten, und inwieweit es ihm gelinge, sei das Maà seiner künstlerischen GröÃe. Ravan sah das ein wenig anders. Er war der Meinung, ein Schauspieler müsse sich selbst kennen und in der eigenen Person tief verwurzelt sein, um sich in das Denken und Fühlen anderer Menschen hineinwagen zu können. Menschen, die man zwar mochte, aber nicht verstand. Oder Menschen, die so verabscheuungswürdig waren, dass sie
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