Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Statisten - Roman

Die Statisten - Roman

Titel: Die Statisten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A1 Verlag GmbH
Vom Netzwerk:
ohne Koloraturen oder Firlefanz vor. Sie brachte die Stimmung der Melodie und des Textes vollkommen unverstellt hervor und rührte damit an Ravans Herz. Er fragte sich, wer zu dieser nachtschlafenden Zeit singen mochte.
    Ravan schaute sich um. Der Alkohol hatte seinen Dienst getan, und die Männer waren völlig weggetreten. Es war keine Zeit zu verlieren. Ravan ging hinüber zur Brüstung der Terrasse. Er schaute hinunter. Im Haus brannte ein einziges Licht, und zwar in Sitas Zimmer. Und auch die Frauenstimme, die noch immer sang, kam von dort. Er hatte schon den Mangobaum entdeckt, mit dem Ast, der bis an Sitas Fenster reichte. Jetzt standen ihm keine Hindernisse mehr im Weg und er hatte freie Bahn. Er brauchte nichts anderes zu tun, als einen kleinen Sprung zu wagen, sich an den Ast zu klammern, sich runterrutschen zu lassen und ein Bein über den Fenstersims zu schwingen. Doch er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Er hatte zwar keine Höhenangst. Wenn er seiner Mutter glauben durfte, konnte er beinahe fliegen. Aber er war ein Junge aus Bombay. Bombay war der Anfang und das Ende seiner Welt. Er war in seinem ganzen Leben nicht auf einen Baum geklettert und er war vor Angst wie versteinert. So sehr er es auch versuchte, er brachte es einfach nicht über sich, auf die Brüstung zu steigen und zum Mangobaum hinüberzuspringen.
    Stand Sita am Fenster und wartete auf ihn? Weinte sie untröstlich? Ihr Gesang hatte das fraglos vermuten lassen. Zürnte sie ihm? Ging sie, verzweifelt und hoffnungslos, zu ihrem Bett zurück? Würde sie sich nach ihm verzehren und langsam dahinwelken? Würde sie ihrem Erstgeborenen den Namen Ravan geben? Würde ihre unglückliche Liebe zu einer der großen tragischen Romanzen Indiens werden? Würden ihre Namen auf ewig miteinander verquickt sein wie Shirin-Farhad, Romeo-Julia, Laila-Majnu und Hir-Ranjha? Würde aus Sita-Ram Sita-Ravan werden?
    Ein Mann ging an Ravan vorbei. Er lächelte geistesabwesend. Es war einer der einheimischen Musiker der traditionellen Gruppe, der Sanai-Spieler. „Hey!“, rief Ravan. „Hey du, der aus dem Mund furzt anstatt aus dem Hintern – wo zum Teufel bildest du dir ein, dass es da langgeht?“ Der Mann kletterte auf die Terrassenmauer, griff nach dem Saum des rechten Beins seiner weiten Baumwollhose, zog ihn bis zum Schritt hinauf und begann zu pfeifen. Ein Sturzbach schoss hervor. Er fing das Mondlicht ein und glitzerte wie ein Diamantarmband. Er pfiff das Lied, das Sita gesungen hatte. Der Mann ließ sein Hosenbein wieder herunter, trat auf die Terrasse zurück, schlafwandelte an Ravan vorbei und legte sich wieder auf seine Matratze.
    Ravan ging zur Terrassenmauer, stieg auf die Brüstung hoch, schloss die Augen und sprang. Der Ast schlug ihm zwischen die Beine. Er klammerte sich verzweifelt fest. Als er sicher war, nicht runterzufallen, öffnete er die Augen. Sita war nicht am Fenster. Der Ast schwankte. Er fuhrwerkte und strampelte, bekam den Fenstersims zu fassen, zur einen Hälfte war er drin, zur anderen baumelte er noch draußen.
    Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Fußboden und Sita fächelte ihm mit dem Pallu ihres Saris Luft zu.
    â€žWas war los?“, fragte sie. „Warum hat es so lange gedauert?“
    Ravan war nicht in der Verfassung zu antworten. Ihre Brüste schwebten über seinem Gesicht. Er suchte mit den Augen nach den Knöpfen ihres Leibchens. Es gab keine. Wie machte sie das? Schlüpfte sie in das Ding wie er in sein Unterhemd?
    â€žHat deine Choli keine Knöpfe? Wie ziehst du sie denn aus?“
    â€žNa, was glaubst du?“ Sie dachte, er nehme sie auf den Arm, aber dann begriff sie, dass er wirklich nicht die leiseste Ahnung hatte. „Die sind hinten.“
    Knöpfe hinten? Die Leibchen seiner Mutter hatten immer vorne Knöpfe. Wie knöpfte man Knöpfe aus Knopflöchern, die man nicht sehen konnte? Seine Finger haspelten unkoordiniert, und seine Ungeduld gewann die Oberhand. Zwei bekam er irgendwie auf, dann riss er einfach. „Nicht so wild!“, sagte sie scharf, aber mittlerweile war er jenseits von Hören und Gehorchen. Er wand sich unter ihr hervor. Sein einziger Gedanke war, die zwei Tauben aus ihren Käfigen zu befreien. Er würde erst den linken, dann den rechten Träger ihres „ BH s“ über ihre Schulter streifen. Die Körbchen würden herabsinken, und die zwei Täubchen

Weitere Kostenlose Bücher