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Die Statisten - Roman

Die Statisten - Roman

Titel: Die Statisten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A1 Verlag GmbH
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letzten Mittelschulklasse. Er war zum zweiten Mal zur Abschlussprüfung angetreten und durchgefallen – alles bloß wegen seiner Mutter. Wäre es nämlich nach ihm gegangen, so hätte er es schon nach dem ersten Versuch gesteckt, aber seiner Mutter zuliebe war er nun einmal willens, unaussprechliche Mühsal zu erdulden.
    Er hasste die Schule. Oh, wie er sie hasste! Biologie, Mathematik, Geschichte, Erdkunde. Was scherte es ihn, ob Chittagong in Ostpakistan oder in Alaska liegt? Und so sehr es ihn auch freute, dass Kaiser Akbar eine hinduistische Prinzessin namens Jodha Bai geheiratet hatte, die dann die Mutter des Kronprinzen Jahangir wurde, und so sehr er den beiden alles erdenklich Gute wünschte, was kümmerte ihn dessen Versuch, eine neue Religion namens Din-e-Ilahi zu gründen? Er wusste nicht mal genau, was seine eigene Religion, der Hinduismus, war. Und doch, weil er sah, mit welcher Löwinnenliebe seine Mutter an ihm hing – obwohl sie noch niemals, nicht ein einziges Mal, ein Wort darüber verloren hatte –, und er sich nicht vorstellen mochte, wie enttäuscht sie gewesen wäre, wenn er nichts aus sich gemacht hätte, hatte er in der achten Klasse eingewilligt, Nachhilfestunden zu nehmen. Es war eigentlich ein bisschen früh, um in der achten Klasse mit dem Förderunterricht anzufangen, aber Parvati-bai wollte kein Risiko eingehen. Sie konnte sich schon den symbolischen monatlichen Beitrag für die städtische Schule kaum leisten, und die halsabschneiderischen Gebühren für die Privatkurse überschritten ihre finanziellen Möglichkeiten bei Weitem, aber Violet Coutinho oben vom fünften Stock hatte ihren Sohn Eddie zu einem solchen eingeschrieben, und Parvati-bai hatte nicht vor zu knausern, wenn es um die Zukunft ihres einzigen Sohnes ging.
    Ravan war klug genug, um zu begreifen, dass jeglicher Widerstand völlig zwecklos gewesen wäre. Er hatte schon wiederholt erlebt, wie seine Mutter, die Arme wie Gott Vitthal in die Hüften gestemmt, einen betrunkenen Fabrikarbeiter – einen der dreiundsechzig, die sie mit Mahlzeiten belieferte – zurechtwies, weil er es gewagt hatte, in die Wohnung einzudringen und sich eigenmächtig aus den Töpfen zu bedienen, obwohl er für den letzten Monat noch nicht bezahlt hatte. Gelegentlich wurde ein Kunde wehleidig und warf ihr unter Tränen vor, welch steinernes Herz sie habe, und Parvati-bai bestätigte sein Urteil durch ein gleichmütiges Nicken. Ab und an wurde ein Dummkopf handgreiflich und versuchte, sie beiseitezustoßen. Kein kluger Schachzug. Noch ehe er wusste, wie ihm geschah, rammte sie ihm den Cricketschläger, den sie für derlei Fälle neben der Tür stehen hatte, scharf in den Bauch. Falls er zu kontern versuchte, parierte sie mit einem Schlag gegen die Brust. Nein, Ravan war nicht so blöd, sich mit seiner Mutter anzulegen.
    Es war unmenschlich von Parvati-bai, fand Ravan, von ihm zu erwarten, dass er jeden Tag sieben reguläre Schulstunden und anschließend noch zwei Nachhilfestunden absaß. Doch mit welcher Begründung hätte er sich beschweren dürfen? Dreiundzwanzig andere Jungen und Mädchen aus dem Komplex von CWD -Chawls, in dem er wohnte, nahmen ebenfalls von sechs bis acht Uhr abends Nachhilfe in unterschiedlichen Fächern. Aber irgendwann war das Maß voll. Nachdem er die Abschlussprüfung zum zweiten Mal vergeigt hatte, hatte er beschlossen, die Sache zu schmeißen. Er war weder ein liebloser Sohn, noch neigte er zum Lügen, wollte jedoch seiner Mutter eine Enttäuschung ersparen und hatte darauf verzichtet, sie davon in Kenntnis zu setzen, dass er keinen Sinn mehr darin sah, seine schulische Laufbahn fortzusetzen.
    Wenn er auf die letzten zweieinhalb Jahre zurückblickte, musste er zugeben, dass dies keine weise Entscheidung gewesen war. Jeden Abend um sechs hatte er sich angeblich zum Nachhilfeunterricht aufgemacht und war schnurstracks zur New India Brass Band in Chawl Nr. 54 marschiert. Sein Vorbild, Raja in „Dil Deke Dekho“, war Schlagzeuger gewesen, und folgerichtig hätte Ravan in seine Fußstapfen treten müssen, ein Schlagzeug war aber schlicht und einfach unerschwinglich. Außerdem ließen sich darauf keine Songs komponieren, und das war sein eigentlicher Traum. Was er brauchte, war ein Tasteninstrument, wie ein Klavier oder auch nur ein Harmonium. Aber in einer Brass Band hatten beide nichts

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