Die Steine der Fatima
dringend mit Euch sprechen.«
»Nun gut, wenn es sein muss«, murmelte Ali nicht gerade begeistert. Ihn störte zurzeit weniger seine unterbrochene Lektüre als die Anwesenheit dieser Frau. Er fühlte sich unter dem offenen, direkten Blick der blauen Augen verunsichert. »Um was geht es?«
»Darf ich mich wenigstens setzen?«
»Ja… ja, selbstverständlich.«
Verwirrt und ärgerlich zugleich deutete Ali auf eines der Sitzkissen. Der anmaßende Ton dieser Frau gefiel ihm überhaupt nicht. Niemand in diesem Hause wagte es, so mit ihm zu sprechen. Aber weshalb stellte er sie dann nicht zur Rede und bestrafte sie, so wie er es mit einem frechen Diener getan hätte? Ali schob sein Verhalten auf seine Höflichkeit. Doch er wusste sehr wohl, dass es eine Lüge war. Irgendwo tief in seinem Inneren ahnte er, dass er in Wirklichkeit Angst vor ihr hatte. Oder irritierte es ihn nur, dass sie immer noch das Brautkleid trug?
»Nun?«, fragte er und startete einen vergeblichen Versuch, ihr unbefangen und selbstbewusst in die Augen zu sehen.
»Nuh II. will mir meine Sachen nicht geben«, begann sie ohne Umschweife, und ihrer Stimme war deutlich anzuhören, wie wütend sie darüber war.
»Wie bitte? Ich verstehe nicht…«
Sie verdrehte ungeduldig die Augen. »Dieser fette, schmierige Kerl behauptet, dass alles ihm gehöre, meine Kleider, meine Toilettenartikel, einfach alles. Er rückt nichts davon heraus.«
15
Tatsächlich hielt Ali sein Versprechen, und noch am selben Tag erschien ein Schneider, der Beatrice bereitwillig Stoff- und Schnittmuster zeigte und schließlich Maß nahm. Sie entschied sich für zwei schlichte Kleider aus hellblauer und gelber Baumwolle, ein etwas aufwendigeres aus dunkelgrüner Seide sowie zwei leichte Gewänder für die Nacht. Obwohl der Mann ihr versicherte, dass Ali eine unbegrenzte Summe für ihre Kleidung zur Verfügung gestellt hatte, wollte sie seinen Geldbeutel nicht mehr belasten als unbedingt nötig. Zwei Kleider für den Alltag und eines für festliche Gelegenheiten genügten ihr. Der Schneider verabschiedete sich zwar mit einer tiefen Verbeugung, aber sie hatte dennoch das Gefühl, den Mann schwer enttäuscht zu haben. Vermutlich hatte er angesichts des guten Rufs und des Vermögens von Ali al-Hussein mit einem Dutzend mehr Aufträgen gerechnet.
Die folgenden Tage verliefen überaus eintönig. Dank Selims Eifer kannte Beatrice bereits nach kurzer Zeit jeden Winkel im Haus und auch alle Diener und ihre Funktionen sowie Alis Gewohnheiten. Danach hatte sie nichts mehr zu tun, gar nichts. Hin und wieder schlenderte sie zum anderen Ende des Flurs, um zu sehen, welche Fortschritte die Renovierung und Ausstattung ihres zukünftigen Schlafgemachs machte. Doch da sie merkte, dass ihre Anwesenheit die Arbeiter irritierte, beschränkte sie ihre Besuche auf ein Minimum. Zweimal kam der Schneider zur Anprobe vorbei, bevor er schließlich fünf Tage später die fertigen Kleider lieferte. Die übrige Zeit, und davon gab es mehr, als ihr lieb sein konnte, verbrachte Beatrice auf dem schmalen Bett in der Patientenkammer. Sie saß oder lag da, starrte an die Wand, spielte mit dem Stein der Fatima und hörte zu, was nebenan geschah.
Da die Tür zu Alis Arbeitszimmer nicht hundertprozentig schloss, bekam sie jedes Wort, das der Arzt mit seinen Patienten wechselte, mit. Es war faszinierend. Ohne Röntgenbilder, Blutwerte und andere Messungen, allein durch Befragung und Untersuchung erfuhr er alles, was er für die Diagnosestellung wissen musste. Mit der Zeit begann sie, Ali zu bewundern und gleichzeitig zu beneiden. Da, wo sie herkam, verließ man sich auf Messwerte und Bilder und vergaß dabei fast die Essenz der ärztlichen Tätigkeit – das ausführliche Gespräch. Dann wiederum konnte sie sich nur mühsam bezähmen, nicht in das Arbeitszimmer zu stürmen und Ali die richtige Diagnose oder eine mögliche Therapie zu nennen. Manchmal überlegte sie sich ernsthaft, mit Ali darüber zu reden, ihm ihre Hilfe anzubieten und von ihm zu lernen. Aber wenn sie ihn zu ihren gemeinsamen Abendmahlzeiten traf und er ihr einsilbig und mit mürrischem Gesicht gegenübersaß, ließ sie es lieber bleiben. Vermutlich würde er ihr ohnehin nicht zuhören.
Nach weiteren fünf Tagen jedoch warf sie alle Vorsätze über den Haufen. Beatrice saß wie immer auf ihrem Bett und hörte, dass ein Bote des Emirs das Arbeitszimmer des Arztes betrat. Beatrice blieb fast das Herz vor Schreck stehen, als sie hörte,
Weitere Kostenlose Bücher