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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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freigibt. Doch ich bete zu Allah, dass er ihr in ihren letzten Tagen wenigstens einen Teil des Leids zurückzahlt, das sie anderen zugefügt hat.«
    Keine Sorge, das hat er bereits getan, dachte Beatrice bitter. Am liebsten hätte sie Mirwat beim Kragen gepackt und sie geschüttelt. Am liebsten hätte sie ihr die ganze Wahrheit erzählt, ihr erklärt, welche Qualen der alten Frau noch bevorstanden. Aber selbst wenn sie nicht unter Schweigepflicht gestanden hätte, bezweifelte sie, dass diese Nachricht in Mirwat auch nur ein Fünkchen eines schlechten Gewissens ausgelöst hätte. Im Gegenteil. Vermutlich hätte Mirwat ihr Wissen nur ausgenutzt, um die arme Frau noch zusätzlich zu quälen.
    Mirwat hakte sich wieder bei Beatrice ein. »Nun zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Beatrice. Dies ist der Lauf des Lebens. Jedem von uns ist nur eine gewisse Lebensspanne gegeben, und allein Allah bestimmt, wann das Ende gekommen ist. Das einzig Traurige daran ist, da pflichte ich dir bei, dass Sekireh es in fast siebzig Lebensjahren nicht vermocht hat, sich einen Platz in den Herzen der Menschen zu erobern. Nicht einmal Nuh II. wird ehrlich um sie trauern. Vielleicht weiß sie es sogar.« Mirwat seufzte. »Möge Allah mich davor bewahren, mein eigenes Leben derart zu vergeuden.«
    Beatrice sah Mirwat nachdenklich an. Wirklich, wenn dies das Ziel des Lebens sein sollte, dann hatte Mirwat es bereits erreicht. Jeder im Palast schien sie zu mögen. Die anderen Frauen unterhielten sich gern mit ihr und suchten ständig ihre Gesellschaft. Aber auch die Dienerinnen gehorchten ihr mehr als den anderen Frauen, sie lasen ihr förmlich jeden Wunsch von den Augen ab. Und das lag nicht allein an Mirwats Stellung im Harem als Lieblingsfrau des Emirs. Die Mädchen vergötterten sie geradezu. Von den anderen Frauen, die niemals zufrieden waren mit ihrer Arbeit, wurden die armen Dinger den ganzen Tag herumgescheucht. Sie waren die Rammböcke für Launen, die die Frauen sonst nirgendwo abreagieren konnten oder durften. Sie wurden beschimpft und manchmal sogar geschlagen. Mirwat hingegen hatte immer ein freundliches Wort, ein Lächeln oder ein offenes Ohr für die Dienerinnen. Tatsächlich war Mirwat in diesem Punkt fast das genaue Gegenteil von Sekireh.
    »…muss sehr erfüllend sein oder sehe ich das falsch?«
    Erst jetzt bemerkte Beatrice, dass Mirwat die ganze Zeit über mit ihr gesprochen hatte. »Entschuldige, aber ich habe nicht zugehört. Was hast du gerade gesagt?«
    Mirwat lachte. »Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Ich sagte gerade, die Heilkunst zu beherrschen stelle ich mir sehr erfüllend vor. Du hast Macht über die Menschen. Sie vertrauen dir, sehen zu dir auf, achten dich. Schau dir nur Ali al-Hussein an. Er ist ein gut aussehender, wohlhabender Mann. Aber wenn er kein Arzt wäre, hätte er niemals solchen Ruhm erlangt.«
    »Da magst du recht haben. Doch wenn ich ehrlich bin, habe ich es noch nie von dieser Seite betrachtet. Ich habe aus anderen Gründen Medizin studiert.«
    »Welche Gründe waren das?« – Tja, welche Gründe waren das? Gute Frage. Beatrice dachte nach. Natürlich konnte sie Mirwat von all den edlen Motiven erzählen, die mit dem Arztberuf verknüpft waren – anderen Menschen helfen, Leben retten, Leiden verhindern und so weiter. Sicher, auch dies war für ihre Berufswahl entscheidend gewesen. Aber eigentlich gab es keinen echten Grund, keinen Auslöser. Sie machte ihren Job gern, er war ein Teil ihrer Persönlichkeit. Warum, darüber hatte sie noch nie wirklich nachgedacht. Sie zuckte mit den Schultern.
    »Keine Ahnung«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Es hat sich so ergeben. Ebenso gut hätte ich wahrscheinlich Anwältin oder Architektin werden können.«
    »Erzähle mir von deiner Heimat«, bat Mirwat, nahm auf einer Bank Platz und sah Beatrice mit den großen, erwartungsvollen Augen eines Kindes an, das auf eine spannende Geschichte hofft. »Ich möchte mehr erfahren über ein Land, in dem eine Frau wie ein Mann studieren kann. Es muss ein seltsames Land sein. Ich hoffe, du verzeihst mir meine Neugierde.«
    »Selbstverständlich«, erwiderte Beatrice lächelnd.
    Mirwat hatte ihr viel von sich erzählt, von ihrer Kindheit im Hause ihres Vaters, einem wohlhabenden Teppichhändler, von ihren Schwestern und Brüdern. Beatrice wusste fast alles über sie.
    Dennoch wurde sie manchmal aus Mirwat nicht schlau. Sie sprach zwar Latein und Altgriechisch, als hätte sie eine höhere Schule besucht, erzählte aber

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