Die Steine der Fatima
Sinnlosigkeit gewusst. Dennoch hatten sie es in einem letzten Aufbäumen, einem letzten Aufflackern ihres Lebenswillens versucht.
Jussuf hatte ihr auf dem Weg zu diesem Gefängnis anvertraut, dass die Häftlinge nicht wissen sollten, wie lange ihre Inhaftierung hier im finsteren Keller des Verlieses dauern würde, und gesagt, dass er selbst eine schwere Strafe riskierte, weil er dieses Verbot missachtet hatte. Damals hatte sie das Ausmaß dieser Grausamkeit nicht begriffen, doch jetzt wurde ihr ganz schlecht, wenn sie daran dachte. Wie viel mehr musste die Dunkelheit, die Stille, die Einsamkeit einen Menschen quälen, wenn man nicht wusste, wie lange dieser Zustand andauern sollte? Wenn man keine Frist kannte, an die man sich in seiner Verzweiflung klammern konnte? Wenn man damit rechnete, dass man hier den Rest seines Lebens verbringen musste? Weshalb waren die anderen, deren Spuren sie im Stein fühlen konnte, eingesperrt worden? Hatten auch sie sich gegen die Tyrannen zur Wehr gesetzt, so wie sie? Oder war ihnen diese Strafe wegen noch geringerer Vergehen auferlegt worden? Wie viele von ihnen hatten dieses Gefängnis wieder lebend verlassen, und war es ihnen gelungen, an dieser grausamen Folter nicht zu zerbrechen?
Beatrice wurde übel, sie konnte das Elend nicht mehr ertragen, das aus dem Stein ihrer Zelle sprach. Sie schloss die Augen. In der herrschenden Dunkelheit kaum mehr als ein Akt der Verzweiflung, denn die Bilder der Gefangenen, Projektionen ihrer eigenen Fantasie, ließen sich dadurch nicht bannen. Doch dann tauchte aus den Tiefen ihres Gehirns plötzlich der Stein der Fatima vor ihren Augen auf. Strahlend blau und klar sah sie ihn vor sich, als würde er vor ihr liegen. Sie holte ihn aus der geheimen Tasche ihres Kleides hervor. Warum nur hatte sie nicht schon viel früher an ihn gedacht? Sie schlang ihre Hand um den Stein und schlief ein.
Als Beatrice die Augen wieder aufschlug, sah sie etwas schmales Gelbes auf dem Boden der Zelle. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass die schmale Linie dem Spalt der Türangel entsprach. Sie starrte den Streifen an, bis ihre Augen tränten. Bildete sie es sich nur ein, oder wurde er allmählich heller?
»Ruhig, Beatrice, ganz ruhig. Mach dir jetzt keine falschen Hoffnungen«, ermahnte sie sich selbst.
Doch es war zwecklos. Ungeachtet jeder Vernunft begann ihr Herz rasend schnell zu klopfen. Und im selben Augenblick wusste sie, dass sie es wahrscheinlich nicht ertragen würde, wenn dieses Licht nicht für sie bestimmt sein sollte. Sie würde diese Enttäuschung nicht überleben. Unwillkürlich kniete Beatrice nieder und schloss ihre Augen. Atemlos lauschte sie. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ihr in der Dunkelheit geschärftes Gehör etwas vernahm, das nicht ihr eigener Herzschlag war, sondern das Geräusch von Schritten, gleichmäßigen, schweren Schritten auf den harten Steinfliesen. Sie kamen immer näher. Und wenn es nur einer der Kerkerdiener war, der ein neues Opfer brachte, eine neue Seele in diese Hölle warf?
O Gott, wie lange dauert es denn noch?, dachte sie und sprach zum ersten Mal seit langer Zeit ihre Gedanken nicht aus. Die Furcht, etwas zu versäumen, ein wichtiges Geräusch zu verpassen, war zu groß. Ich halte diese Ungewissheit nicht länger aus!
Die Schritte näherten sich und wurden immer lauter. Beatrice schlug die Augen auf. Der Türspalt zeichnete sich bereits deutlich als Rechteck vor der Dunkelheit ab, die Helligkeit war unglaublich. Wie eine Träumerin hob sie ihre Hände empor und vermochte kaum zu fassen, dass sie sie sehen konnte – wirklich sehen, mit ihren eigenen Augen! Dann erscholl ein ohrenbetäubender Lärm, ein Poltern, Rasseln und Quietschen, das von den Wänden widerhallte, als kündige es die Ankunft eines überirdischen Wesens an. Licht, gleißend helles Licht übergoss Beatrice. Vor Angst und Entsetzen schrie sie auf. Sie schloss ihre Augen und schlug die Hände vors Gesicht, um nicht geblendet zu werden. Trotzdem schmerzten ihre Augen, und grelle Lichtpunkte tanzten hinter ihren Lidern. Doch sie nahm die Gestalt war, die dort im Licht stand und deren Umrisse sich deutlich abzeichneten. Es war die Gestalt eines Engels. Und es war auch die Stimme eines Engels, die dröhnend wie eine Posaune und tröstlich zugleich zu ihr sprach.
»Ich bin gekommen, um dich zu erlösen. Die zehn Tage sind vorüber.«
11
Beatrice lag in ihrem Bett. Draußen brannte schon die Sonne unbarmherzig von einem
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