Die steinerne Pforte
Wehrgang: Niemand beachtete ihn. Er duckte sich hinter einen Busch, ging auf die Knie und bahnte sich einen Weg durch das dichte Gewirr der Äste. Dabei musste er sich auf die Lippen beißen, um nicht aufzuschreien, so schnitten ihm die Zweige ins Fleisch. Doch schließlich hatte er sich bis zu der Lücke zwischen der Hecke und der Mauer durchgezwängt. Dann folgte er der Außenmauer bis zum äußersten Ende des Hofes und hielt unter einer Dattelpalme inne, deren Blätter ihm von oben einen Sichtschutz boten. Von hier aus konnte er zwar den Hof nicht mehr sehen, aber wenn er die Blätter ein wenig beiseite schob, hatte er die Allee, die zu den Bädern führte, genau im Blick – falls sich Penebs Nachbar nicht geirrt hatte. Jetzt hieß es nur noch: warten. Warten und hoffen.
8.
Der gläserne Skarabäus
Ein Knirschen auf dem Kies . . .
Samuel schreckte hoch. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er war. Die Arbeiter von Set-Maat . Die Demonstration, der Tempel der Millionen Jahre ... Dann waren alle weg und ... ja, auch Penebs Delegation. Irgendwann war alles still gewesen. Er musste eingenickt sein. Und jetzt kam jemand die Allee hinunter.
Sam nahm seinen Beobachtungsposten wieder ein. Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, und der Vollmond, von einem feinen Wolkenschleier verhangen, tauchte alles in aschfahles Licht. Die sechste Stunde? Irgendwo in der Ferne hörte man den Klang eines Horns. Und ganz in der Nähe immer noch die Schritte. Er kniff cm paar Mal die Augen zusammen, um den Schlaf zu vertreiben. Eine Gestalt, ein Schatten . . . Ein Mann in einfachem Lendenschurz und mit kahl rasiertem Schädel. Er trug einen Stab, auf dem eine Lackel steckte. Ahmousis?
Der Mann ging zu dem kleinen Tor, genau auf der gegenüberliegenden Seite des Beetes und steckte seine Fackel in eine Halterung an der Mauer. In der Hand hielt er ein Stöckchen, das er in die Schließvorrichtung steckte – alle Schlösser hier bestanden aus einem komplizierten System von Schnüren. Die Tür sprang auf, und der Priester verschwand; die Fackel ließ er zurück. Das machte es Sam nicht gerade leichter: Wie sollte er durch den Lichtschein laufen, ohne von den Wachen gesehen zu werden? Viele Möglichkeiten hatte er nicht. Wenn er wartete, bis Ahmousis wieder herauskam, war es womöglich zu spät. Sollte er ihn rufen? Die Soldaten würden sich auf ihn stürzen, bevor er auch nur Piep sagen konnte. Außerdem hatte er keine große Lust darauf, von ihnen das Fell über die Ohren gezogen zu bekommen, wie Penebs Nachbar so schön gesagt hatte.
Sam schlüpfte wieder durch die Hecke. Er musste aufpassen, dass ihm die spitzen Zweige nicht das Gesicht zerkratzten. Dann schlich er in weitem Bogen um den Lichtkegel der Fackel herum. Die Tür stand offen, ein Satz würde genügen. Er nahm Schwung, sprang, so weit er konnte, und landete ohne größere Schwierigkeiten in einem Beet aus langstieligen Pflanzen. Papyrus. Angenehmer und auf jeden Fall weniger geräuschvoll als der Kies . . . Vorsichtig richtete er sich auf. Er war in einem Garten: kleine Bäumchen, Sträucher, Schilfrohr, eine kurz geschorene Rasenfläche. In der Mitte ein rechteckiges Becken, zu drei Vierteln mit Wasser gefüllt. Der Priester stand aufrecht am Rand des Beckens, die Hände vor sich zusammengelegt, und murmelte kaum hörbare Formeln. Sam bekam plötzlich weiche Knie und beobachtete ihn wie gelähmt. Was sollte er ihm sagen? Wie sollte er sich vorstellen?
Die Priester trat auf die erste der Stufen, die ins Becken hineinführten. Wieder hielt er leise sprechend inne. Jetzt mach schon!, versuchte Sam, sich selbst Mut zu machen. Er hatte keine Wahl – irgendwie musste er doch wieder nach Hause kommen! Er dachte an seinen Vater, an Grandma. Los, reiß dich zusammen!
In diesem Augenblick bemerkte er zu seiner Linken eine Bewegung auf der Mauer. Er sah nach oben: Auf dem Wehrgang zeichnete sich deutlich eine Gestalt ab, die rittlings auf der Brüstung hockte. Ein Bogenschütze . . .
»Vorsicht!«, brüllte Sam.
Etwas zischte durch die Luft, und der Priester fiel wie ein Stein auf den Grund des Beckens. Sofort folgte ein zweiter Pfeil, durchfuhr das aufgewühlte Wasser genau dort, wo der Körper untergetaucht war. Samuel wusste nicht mehr, was er tun sollte.
»Alarm!«, schrie er aus Leibeskräften. »Alarm!«
Jetzt hatte ihn der Bogenschütze erspäht... Sam ließ sich in den Papyrus fallen und hörte, wie der Pfeil die Zweige direkt über ihm durchschnitt. Er
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