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Die steinerne Pforte

Die steinerne Pforte

Titel: Die steinerne Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Prevost Andre
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Verstärkung holen. Seid Ihr auf dem Weg in die Stadt?« »Äh ... in die Stadt, ja . . .«
    »Schön, dann wird es uns eine Freude sein, Euch zum Abendessen einzuladen! Mindestens das sind wir Euch schuldig, nicht wahr?«
    Sie ließen den Räuber liegen und folgten dem schmalen Schlammpfad, der sich durch den Wald schlängelte. Hans Baltus hatte seine linke Hand in eine Schlinge gelegt und wetterte weiter gegen all diese Wegelagerer.
    »Sobald man sich außerhalb der Stadtmauern bewegt, ist man sich seines Lebens nicht mehr sicher! Schuld daran ist auch diese Hochzeit. Ich sollte mich eigentlich nicht darüber beklagen, aber ... es gibt in Brügge so viele bewaffnete Wachen, dass das ganze Gesindel das Weite gesucht hat. Jetzt rotten sie sich auf dem Land zusammen und überfallen den erstbesten Reisenden aus dem Hinterhalt.«
    Brügge? Sam überlegte, der Name sagte ihm nichts. Lag das Schloss von Vlad Tepes in Brügge? Er atmete tief ein: Die Luft kam ihm beinahe salzig vor.
    »Ihr werdet jetzt sicher fragen, warum wir uns trotzdem außerhalb der Stadtmauern herumtreiben?«, fuhr Baltus fort. »Dieser Friedhof liegt sehr weit draußen, das ist richtig. Aber meine arme Frau war diesem Ort sehr verbunden. Sie kam oft hierher als Kind; ihre Großmutter war dort begraben. Und sie selbst . . . Sie ruht jetzt seit gut einem Jahr dort.«
    Seine Stimme erstarb in einem tiefen Seufzer, und Yser vergrub ihr Gesicht erneut in ihrem Taschentuch.
    »Das tut mir leid«, murmelte Sam. »Aber Ihr selbst? Kamt Ihr, um einen Eurer Verstorbenen zu besuchen?«
    »Nun ja, in gewisser Weise schon.«
    »In gewisser Weise?«
    Sam war solche Fragen mittlerweile gewohnt. Das Beste war, sich eine Geschichte auszudenken, die vage genug war, um möglicherweise etwas Mitleid zu erregen, ohne jedoch verdächtig zu erscheinen.
    »Eigentlich habe ich sie nicht richtig gekannt. Marga Waagen ist eine entfernte Cousine meines Vaters. (Der Name war ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen, er hatte ihn auf einem der Grabsteine gelesen.) Ich habe keine Familie mehr, also bin ich nach Brügge gekommen, um sie zu besuchen.«
    »Die alte Marga? Aber sie ist schon vor ein paar Monaten gestorben! Habt Ihr das nicht gewusst?«
    »Ich habe es erst heute herausgefunden.«
    »Soviel ich weiß«, fügte Hans hinzu, »lebte sie allein und war nicht besonders vermögend. Verwandtschaft von ihr werdet Ihr hier nicht finden. Sie stammte aus dem Osten, aus Malines, glaube ich. Ist es nicht so?«
    »Aus . .. aus Malines, genau. Ich selbst komme auch von dort.«
    »Ihr kommt den ganzen Weg von Malines hierher, müsst erfahren, dass Eure Tante nicht mehr ist, und dann werdet ihr auch noch überfallen! Welch eine Verkettung trauriger Umstände!«
    Sie erreichten den Waldrand, wo sich auf einmal in blendender Helligkeit vor Sams Augen die Stadt erhob: ein steinerner Dampfer, so kam es ihm vor, überragt von tausend verschneiten Dächern, umgeben von Wasser und Mühlen, die zwischen dem immer dunkler werdenden Himmel und der Erde zu schweben schienen, dahinter der Horizont, der schon das Meer erahnen ließ. Zwei große rundliche Schiffe mit rechteckigen Segeln schienen, umschwärmt von kreisenden Möwen, direkt auf die Stadtmauern zuzugleiten. Farbige Stoffe hingen von den Brüstungen herab, und riesige Fackeln beleuchteten den vorderen Hafen, in dem geschäftiges Treiben herrschte: Fässer wurden ausgeladen und Körbe mit Lebensmitteln. Das Eigenartigste war, dass sich das Ganze fast ohne einen Laut abspielte, als ob die dicke weiße Decke jedes Geräusch verschluckte. Eine Fata Morgana im Winter, dachte Sam.
    Doch als sie sich der ersten Brücke näherten, nahmen auch die Geräusche zu und schwollen zu einem lebendigen Durcheinander an. Sic passierten ein gewaltiges Tor und kniffen im hellen Schein der Fackeln die Augen zusammen. Mehr als zehn Männer waren gerade dabei, mithilfe von Seilen die Ladung eines Holzschiffes auf kleinere Boote zu verladen. Sie erledigten ihre Arbeit mit spärlichen knappen Zurufen und sparsamen Gesten. Nur ein paar Vorarbeiter hörte man lauter rufen: »Schneller, Männer! Der Graf will das Wild um acht in seiner Küche haben! Heute Abend ist das Hochzeitsbankett!«
    »Meine Heringe, ihr Tölpel, kippt mir meine Heringe nicht aus!« »Hier sind dreißig Ballen Stoff zu entladen, dreißig! Ich brauche zehn Träger!«
    Sie schlängelten sich zwischen Fässern und verschnürten Paketen hindurch bis zu einer langen Barke, die gerade ablegen

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