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Die Steinernen Drachen (German Edition)

Die Steinernen Drachen (German Edition)

Titel: Die Steinernen Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kern
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treffen. Der alte Mann redete wirres Zeug, aber er hatte ihn über die Grenze nach Vientiane gebracht. Die ekelhafte Aktion mit dem Hühnerkarren war bestimmt kein Zufall gewesen. An wen war er da geraten? Konnte dieser Greis tatsächlich der Initiator dafür sein? In welchem Verhältnis stand er zu Lea? Die Insektenstiche an seiner Wade juckten jetzt wie verrückt und lenkten ihn von seinen Überlegungen ab. Er verlor die Konzentration. Außerdem war er hungrig.
    Der Alte sah ihm direkt in die Augen, als wolle er seine Gedanken lesen. „Ich fürchte, es bedarf vieler Worte, um dich auf den rechten Pfad zurück zu bringen. Tief in deinem Herzen weißt du, was zu tun ist, aber dein Kopf verschließt sich der Wahrheit.“
    Frank überhörte die Bemerkung, weil ihm etwas eingefallen war. „Wollen Sie Ihre Pistole zurück?“, fragte er. Das Gesicht des Alten blieb unbeeindruckt, aber er glaubte ein kurzes Zucken der Nasenflügel zu bemerken. Hatte er seinen unbekannten Helfer gefunden?
    Eine Frau betrat das spartanisch eingerichtete Zimmer. Sie war klein und dürr, mittleren Alters, hatte ihr graumeliertes Haar streng nach hinten gebunden und steckte in denselben Sachen wie der Alte und er: Einheitskleidung. Ihr bleiches Mondgesicht war glatt und ausdruckslos, glich einer Maske. Die Augen waren nur enge Schlitze. Die Frau trug ein Tablett mit Essen darauf, dass sie zwischen ihnen auf den Tisch stellte. Danach verschwand sie so wortlos, wie sie erschienen war. Der Alte griff nach einem Schälchen mit Reis und begann zu essen. Er empfand dies als Aufforderung und tat es ihm gleich. Schweigend nahmen sie die Mahlzeit ein. Nur der Regen und das Klappern der Essstäbchen waren zu hören. Zum klebrigen Reis gab es sautiertes Schweinefleisch mit Zwiebeln, Zitronengras und aromatischen Gewürzen in einer sämigen Reismehlsoße. Frank, der zu diesem Zeitpunkt alles gegessen hätte, schmeckte das Essen vorzüglich und so gesellte sich zum dringenden Bedürfnis, etwas in den Magen zu bekommen, eine kulinarische Zufriedenheit. Nach dem dritten Schälchen Reis kam mit dem Völlegefühl auch die Neugierde zurück. Gesättigt stellte er die geleerte Holzschüssel ab, spülte mit Tee nach und gab dem Alten mit einer Geste zu verstehen, dass er bereit war. Der Greis lächelte und zeigte dabei seine gelben Zähne. Er zündete zwei Räucherstäbchen an, die neben der Teekanne in einer flachen Tonschale lagen. Der Regen hatte aufgehört gegen die Bambusmatten vor den Fenstern zu klopfen. Draußen senkte sich die Nacht über Laos’ Hauptstadt.
    Statt seine Fragen zu beantworten, erzählte der Alte eine Geschichte. „Eines Tages begannen die Menschen im Reich der Mitte wie üblich bei Sonnenaufgang ihr Tagwerk, bestellten ihre Felder, schmiedeten ihr Eisen, warfen ihre Netze in den Gelben Fluss. Eine Stunde später erschien erneut eine Sonne am Horizont. Glühend rot erhob sie sich über die Berge. Es dauerte nicht lange und ein dritter Sonnenaufgang kündigte sich an. Den ganzen Tag über hoben sich gleißend helle Feuerbälle empor, bis nicht weniger als zehn Sonnen am Himmel standen. Die Hitze war unerträglich und bedrohte alles Leben im Reich der Mitte. Die Menschen flüchteten vor Entsetzen in ihre Hütten. Die Ernte vertrocknete binnen weniger Stunden auf den Feldern. In den Seen und Flüssen verdampfte das Wasser. Tiere verendeten unter grausigem Gebrüll. Als die Sonnen allesamt im Zenit standen, kehrte tödliche Stille ein. In seiner Not und Verzweiflung betete Kaiser Taizu zum Ostgott Di Jun. Wenn es jemanden gab, der seinem Volk helfen konnte, dann war es Di Jun, der in einem fernen Tal herrschte. Dort stand der große Fu-Shan-Baum, ein riesiger Maulbeerbaum, auf dessen Äste sich die zehn Sonnen in der Nacht niederließen.
    Bei ihrer Reise über den Himmel, wechselten sich die Sonnen normalerweise ab und ruhten sich dort aus, weil in ihnen Drachen wohnten, die mit Hilfe ihrer Schwingen die Feuerbälle über den Himmel trugen. Die Drachen waren Kinder von Di Jun und der Göttin Xi He.“ Der Greis machte eine Pause und trank von seinem Tee.
    Frank hatte eine Ahnung, wohin die Geschichte des alten Mannes führen sollte. Deutlich sah er die Drachen vor sich, wie sie ihren heißen Atem über das chinesische Reich hauchten und suchte nach den Zusammenhängen. Der aufdringliche Duft der Räucherstäbchen machte ihn schwindelig. Er fühlte sich benommen.
    „Nun waren aus unerklärlichen Gründen alle zehn Sonnen auf einmal in das

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