Die steinernen Schatten - Das Marsprojekt ; 4
einmal war ihm ein Befreiungsschlag aus dem Jiu-Jitsu wieder eingefallen, den Ariana ihm vor Jahren gezeigt hatte, kurz nachdem sie das Training bei Kim Seyong begonnen hatte. Er verschwendete keinen Gedanken daran, dass er ihr nur zugesehen hatte und keinerlei praktische Übung in diesem Kampfsport besaß. Er riss den Arm in die Höhe, an dem Roger Taylor ihn festhielt, drehte sich gegen den großen, starken Mann, hieb ihm mit der anderen Hand gegen den Unterarm und trat ihm mit dem Fuß gegen das Knie. Eine Sekunde und er war frei.
In der nächsten Sekunde war er bereits im Turm.
Wieder war es wie bei seiner Flucht aus den gläsernen Höhlen. Er hätte nicht sagen können, ob während der Passage endlos viel Zeit verging oder ob sie schneller als ein Herzschlag vorbei war. Er wusste es nicht. Er kam heraus und taumelte unter einer mörderischen Kraft, die ihn zu Boden werfen wollte.
Aber er fiel nicht. Er schaffte es, stehen zu bleiben und sich umzusehen. Da. Da lag Elinn, in einer Aureole gelben Lichts, keine zwanzig Meter entfernt.
Zwanzig schwere Meter. Jetzt hieß es, sich zu beeilen.
Arianas Entsetzen war immer größer geworden. Seit sie vorhin am Löwenkopf angelangt waren, nahm der Schrecken kein Ende. Ihr war, als gehe in dieser Stunde ihre Kindheit zu Ende. Als zerbreche alles, was einmal wichtig in ihrem Leben gewesen war.
Schon Elinn da liegen zu sehen – regungslos, wie tot, beinahe verschluckt von einem gierigen Dunkel – oder sich mühsam dahinschleppend, auf der Suche nach einem Rückweg, den sie nicht fand – das war schon entsetzlich genug gewesen. Ariana hatte sich nie vorgestellt, dass sie einmal solche Angst um ihre Freundin würde haben müssen, ihre Vertraute, das einzige Mädchen außer ihr auf dem Mars. Das einzige Mädchen, das sie je kennengelernt hatte und mit dem sie über alles reden konnte. Elinn, die alle ihre Geheimnisse kannte – und bewahrt hatte. Elinn, die immer gemacht hatte, was sie wollte. Nun zu sehen, wie sie sich in eine Lage gebracht hatte, aus der es kein Entkommen zu geben schien, war mehr als entsetzlich.
Wie gelähmt hatte sie die Versuche mit den Artefakten verfolgt. Carl und Urs hatten welche, bei ihnen schienen sie zu funktionieren, na toll. Und sie? Und Ronny? Sie waren auf einmal Marskinder zweiter Klasse. Unerwünscht bei dem, was die Fremden vorhatten, wie es schien.
Es war wie ein Riss, der durch die Gruppe ging. Sie hatten immer zusammengehalten wie Pech und Schwefel, doch damit war es vorbei, wie es aussah.
Und dann hatte sie, vollends fassungslos, zusehen müssen, wie sich das Leuchten im Turm herabsenkte und den schwarzen Himmel darin auslöschte, wie Carl sich mit einem Schrei losriss und sprang, hinüber in die dunkle, fremde Welt . . . Carl, der für sie, auch so etwas war wie ein großer Bruder . . .
Ohne nachzudenken, fuhr sie zu Urs herum, stieß ihn an und rief: »So hilf ihm doch!«
Urs, das Messgerät von Professor Caphurna noch in der Hand, zuckte zusammen, taumelte, stolperte nach hinten . . .
…und verschwand im Turm.
Ariana hatte das Gefühl, dass ihr Herz aussetzte. Was hatte sie getan? Sie hatte den Jungen, den sie liebte, in eine andere Welt hinübergestoßen, auf einen Planeten, von dem niemand wusste, wo er sich befand, und von dem es vielleicht keine Rückkehr gab.
Jemand schrie, und erst, als eine feste Hand sie packte, begriff Ariana, dass sie es selber war.
Natürlich wäre es undenkbar gewesen, Carl allein gehen zu lassen. Doch als der sich losgerissen hatte, war Urs einen Moment abgelenkt gewesen. Ein Glück, dass Ariana ihn erinnert hatte. Der Mann neben ihm hatte schon die Hände nach ihm ausgestreckt, war aber dank Arianas Stoß zu spät gekommen. Ein Satz hatte Urs genügt, um ihm zu entkommen und Carl auf den anderen Planeten zu folgen.
Die Passage selbst war ein seltsames Erlebnis. Eigentlich schien sie nur einen Wimpernschlag lang zu dauern, aber gleichzeitig hatte Urs doch irgendwie den Eindruck, monatelang im Leeren zu hängen, im Nichts, in einem merkwürdigen Zustand zwischen Traum und Realität. Am ehesten hätte er es damit verglichen, in einem großen Schwimmbecken untergetaucht zu sein und mit angehaltenem Atem reglos zu schweben. Wenn man das tat, gab es einen Moment, in dem man das Gefühl hatte, ewig in dieser Schwebe bleiben zu können, wenn man nur wollte, und gleichzeitig das Gefühl, den Druck keinen Augenblick länger auszuhalten. Meistens musste man gleich darauf auftauchen. Und so
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