Die steinernen Schatten - Das Marsprojekt ; 4
Mit einer Tankfüllung kann dieses Flugzeug den Planeten einmal umrunden.«
Van Leer drehte sich um. Vorne tat sich etwas. Jemand brachte eine kurze Leiter herbei, über die Ronny an Bord kletterte. »Es scheint loszugehen. Noch vier Minuten bis zum geplanten Start.«
Okay. Der geeignete Moment, um aus dem Bild zu treten und auf das Geschehen am Cockpit zu zoomen. Wie die Kanzel geschlossen wurde und jemand die Leiter wieder forttrug. Wie sich auf einmal die Propeller in Bewegung setzten und alle machten, dass sie aus der Reichweite der Flügel kamen.
»Ronny hat soeben die Motoren gestartet«, erklärte Van Leer seinen imaginären Zuschauern auf der Erde. Im Moment schien es ihm höchst fraglich, dass dieser Bericht jemals gesendet werden würde.
Allerdings hatte er dieses Gefühl schon oft gehabt. Häufig in viel brenzligeren Situationen. Und am Ende war doch alles gut gegangen.
»Noch ist das Flugzeug am Boden verankert und kann sich nicht bewegen«, fuhr er fort. »Sobald jedoch die Triebwerke ihre volle Kraft erreicht haben, wird die Verankerung gelöst und im gleichen Augenblick werden die beiden Hilfsraketen zünden. Das sind die zwei dunklen Zylinder, die Sie rechts und links an den Kufen sehen, auf denen das Flugzeug steht.«
Die Propeller rotierten immer schneller; die einzelnen Rotorblätter waren kaum noch auszumachen. Die Umrisse verschwammen.
Van Leer schaltete sich in den Funkverkehr ein.
»Bin auf neunzig Prozent . . .«, war Ronnys helle Stimme gerade zu vernehmen. »Fünfundneunzig . . .«
Die Rotoren sahen nun aus wie halb transparente, glitzernde Scheiben.
»Vollschub erreicht.«
»Okay«, sagte eine dunkle Männerstimme. »Ausklinken in zehn Sekunden. Fünf …vier . . .«
Ein Zittern durchlief das gewaltige Gebilde. Die Flügelenden wippten auf und ab.
»…drei . . .«
Heller Rauch kam aus den beiden Raketen geschossen, gefolgt von einem feuerhellen Strahl.
»…zwei …eins . . . Start!«
Der Haken sprang hoch. Das Flugzeug schnellte nach vorn, eine ganz und gar unglaubliche Bewegung, raste auf die äußerste Felskante zu und darüber hinaus und …erhob sich in die Luft.
»Der Start ist geglückt!«, kommentierte der Journalist, selber gebannt von dem Anblick des riesigen weißen Vogels, der sich elegant in die Kurve legte und mit Ehrfurcht gebietender Gelassenheit über den Kraterrand stieg. »Der jüngste Pilot des Sonnensystems ist unterwegs.«
In aller Frühe, noch vor Anbruch der Dämmerung, hatten sich Yin Chi und seine Begleiter mit zwei Rovern von der Siedlung aus auf den Weg gemacht. Nun standen sie hier, vor den Ruinen der ehemaligen Asiatischen Marsstation: zwei kleine, unscheinbare Kuppeln vor dem grandiosen Panorama des Noctis Labyrinthus, der Schluchten am westlichen Ende der Valles Marineris.
Inzwischen waren die einst makellos weißen Halbkugeln an mehreren Stellen eingestürzt. Die Spuren des Kampfes, den sie um die Station ausgetragen hatten, waren von Sand zugeweht worden. Das, was von ihnen noch stand, würde nie wieder bewohnt werden können.
»Niemand betritt die Gebäude«, ordnete Yin Chi an. Am besten war, sie sprengten die Überreste der Kuppeln, ehe es zu Unfällen kam.
Nicht heute allerdings. Heute hatten sie anderes zu tun. Denn der Sand hatte nicht nur Fußabdrücke und Schleifspuren zugeweht, sondern auch das Katapult. Und das brauchten sie, wenn sie das Marsflugzeug für seine automatisch gesteuerte Mission in die Luft bekommen wollten.
Zwei Männer bauten ein Druckzelt auf, das als vorläufiges Hauptquartier dienen würde. Drei andere luden die Steuerungseinheit ab, ein empfindliches Gerät, das in einem speziellen Gestell transportiert werden musste, um Schäden zu vermeiden. Es war bereits fertig programmiert und mit Filmen und Datenspeichern bestückt. Sobald das Marsflugzeug gelandet war, würden sie Ronnys Pilotensitz wieder aus- und dieses Gerät einbauen und dann konnte es losgehen.
Die übrigen Männer aus Yin Chis Team fegten die Schienen des Katapultes, die von dem Platz vor den Kuppeln bis an den Klippenrand liefen.
Als die Nachricht von Ronnys geglücktem Start kam, glänzten sie bereits wieder. Doch der Katapultwagen, der das Flugzeug in die Lüfte schleudern sollte, lief noch nicht problemlos durch, sondern hakte und ruckelte. Die langen Monate, die das Gerät ohne Schutz und ohne jegliche Wartung der Kälte marsianischer Nächte und Staubstürmen ausgesetzt gewesen war, hatten ihm nicht gutgetan.
»Wir haben Zeit«,
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