DIE STERBENDE ERDE
offensichtlich, daß viel Zeit und Liebe in diese Schnitzereien gesteckt worden waren.
Eine größere Zahl Bürger kam zwischen den hinter Bäumen versteckten Häusern heraus und spazierte die Straße zur Anhöhe hoch. Sie unterhielten sich mit leisen Stimmen, ihre Bewegungen waren harmonisch und ihre Kleidung von einer Eleganz, die Guyal in den Steppen des Nordens nicht erwartet hatte.
Der Führer blieb stehen und wandte sich an Guyal. »Erweist Ihr mir den Gefallen und wartet hier, bis ich dem Woiwoden von Eurer Ankunft berichtet habe, damit er Euch einen würdigen Empfang bereitet?«
Die Worte klangen so offen, wie der Blick des Saponiden schien, und doch hatte Guyal ein ungutes Gefühl. Aber da die Hufe seines Pferdes in der Mitte einer Straße standen, und da er nicht beabsichtigte, von seinem Weg abzuweichen, versprach er zu warten. Der Führer verschwand, und Guyal betrachtete die malerische Stadt, die so hoch über der Steppe lag.
Eine Gruppe Mädchen kam herbei. Die jungen Dinger musterten Guyal neugierig, und er betrachtete sie mit nicht weniger großem Interesse. Irgend etwas stimmte nicht mit ihnen, aber er wurde sich nicht klar, was es war. Sie trugen hübsche Gewänder aus handgewebter Wolle, gestreift und von verschiedenen Farben. Alle waren schlank und grazil und ein bißchen kokett wie alle jungen Mädchen. Und doch…
Der Führer kehrte zurück. »Habt die Liebenswürdigkeit, Herr Guyal, mir zu folgen.«
Guyal bemühte sich, kein Mißtrauen durchblicken zu lassen, als er dem anderen erklärte: »Ihr müßt verstehen, mein Herr, daß ich aufgrund der Art des Segens meines Vaters auch nicht einen Schritt vom Weg abweichen darf, denn täte ich es, könnte jeglicher Fluch oder Zauber, mit dem man mich auf meiner langen Reise bedenken wollte und der gerade auf eine solche Gelegenheit harrt, mich einholen.«
Der Saponide nickte verständnisvoll. »Eure Einstellung ist sehr vernünftig. Doch kann ich Euch beruhigen, ich beabsichtige nur, Euch zu einem Empfang durch den Woiwoden zu begleiten, der bereits zu unserem Stadtplatz eilt, um Euch, einen Fremden aus dem fernen Süden, willkommen zu heißen.«
Nach etwa hundert Schritten verlief die Straße eben und eine kurze Strecke säumte sie links und rechts eine herrliche Anlage mit herzförmigen Blumen in allen Purpur-, Rot-, Grün- und Schwarztönen ein.
Der Saponide wandte sich an Guyal. »Ich muß Euch als Fremden davor warnen, die Anlage zu betreten. Sie ist eine unserer heiligen Orte, und die Tradition bestimmt, daß eine Überschreitung des Verbotes und das somit begangenen Sakrileg schwerste Strafe nach sich zieht.«
»Habt Dank für die Warnung.« Guyal verbeugte sich höflich.
»Ich werde eure Gesetze respektvollst beachten.«
Sie kamen nun an dichtem Buschwerk vorbei. Mit grauenvollem Gebrüll sprang eine gräßliche Kreatur von dahinter hervor, ein Wesen war es mit hervorquellenden Augen und riesigen spitzen Hauern. Guyals Schimmel scheute, machte einen weiten Satz geradeaus in die geheiligte Anlage und zertrampelte die zarten Blumen.
Mehrere Saponiden rannten herbei. Sie packten das Pferd am Zügel und zerrten Guyal aus dem Sattel.
»Ho!« rief Guyal. »Was soll das? Laßt mich sofort los!«
Der Saponidenführer, der ihn begleitet hatte, schüttelte tadelnd den Kopf. »Wie konntet Ihr nur! Hatte ich Euch nicht gerade erst erklärt, wie schwerwiegend ein solcher Verstoß ist?«
»Aber das Ungeheuer erschreckte mein Pferd!« protestierte Guyal. »Man kann mich unmöglich für diese Übertretung verantwortlich machen. Laßt mich los, damit wir uns zu dem Empfang begeben können.«
»Ich fürchte«, murmelte der Saponide düster, »die für dieses Vergehen vorgeschriebene Strafe ist unabwendbar. Euer Protest, wenn auch möglicherweise glaubwürdig, dürfte am Ohr der Allgemeinheit vorbeigehen, denn erstens ist das Geschöpf, das Ihr als Ungeheuer bezeichnet, ein völlig harmloses Haustier. Zweitens haben wir alle bemerkt, daß Euer Pferd sich absolut nach Eurer Zügelführung richtet. Drittens, selbst wenn man Euch zugestände, daß Ihr die Anlage unbeabsichtigt betreten habt, wäret Ihr doch des Leichtsinns und der Unterlassung schuldig. Ihr hättet Euch von vornherein keinem so unberechenbaren Reittier anvertrauen dürfen oder, nachdem Ihr von der Heiligkeit dieses Ortes erfahren habt, mit einem Vorfall wie diesem rechnen müssen und deshalb absteigen und Euer Pferd am Zügel führen sollen. Deshalb, Herr Guyel, obgleich es mir
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