Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
über den Kopf gezogen hatte; darunter sah ihr Gesicht so kalt und starr hervor, daß Mary den Eindruck hatte, es müsse zerspringen wie Eis, wenn man es berührte. Lord Cavendor wirkte, anders als am Tag zuvor, äußerst schlecht gelaunt. Er machte keinen einzigen seiner plumpen Scherze, sondern half Cathleen nur stumm auf ihr Pferd, wobei seine Gesten keineswegs zärtlich, sondern beinahe verachtungsvoll grob waren. Er selbst wollte, umgeben von einer Schar schwerbewaffneter Diener an der Spitze des Zuges reiten, dann sollte Cathleen mit Anne Brisbane, Mary und anderen Dienerinnen folgen, eskortiert ebenfalls von einer Gruppe bewaffneter Männer, und als letztes kamen die schwer beladenen Packpferde. Sie wurden am schärfsten bewacht, denn sie trugen die kostbare Mitgift. Mary hatte ein kleines, dickliches Pferd zugewiesen bekommen. Sie hatte nicht gewagt, irgend jemandem zu gestehen, daß sie in ihrem ganzen Leben noch nie auf einem Pferd gesessen hatte, und nun gelang es ihr nur mit mehreren Anläufen, die glücklicherweise im allgemeinen Abschiedsgetümmel niemandem auffielen, hinaufzuklettern. Ihr Pferd hatte weder einen Sattel noch eine Decke, dafür einen entsetzlich schaukelnden Gang, der Mary völlig hilflos hin und her rutschen ließ. Sie preßte beide Beine fest an den zotteligen Tierbauch,
krallte sich mit beiden Händen an der Mähne fest und beneidete Lady Cathleen und Anne, die kühl und aufrecht in ihren weichen Damensätteln saßen und für die es scheinbar nicht die allergeringste Anstrengung bedeutete, das Gleichgewicht zu halten.
Cathleen blickte weder ihren Vater noch ihre Mutter an, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Mary als einzige sah zurück auf die grauen Dachziegel des Schlosses, auf die Blumen im Park und auf die Menschen, die zurückblieben. Sie hätte Gladys gern noch einmal gewinkt, doch sie brauchte beide Hände, um sich an dem Hals des Pferdes festzuhalten. Kurz bevor sie das Parktor passierten, sah sie Bess, die aus den Büschen am Wegesrand auftauchte. Ihr Gesicht war verzerrt vor Wut und Haß.
Das verzeiht sie mir nie, schoß es Mary durch den Kopf, Gott sei Dank, daß ich sie so bald nicht wiedersehen muß!
Vor ihr taten sich die Wiesen von Kent auf, flach und weit, grün und voller hochsommerlicher Blumen, und dazwischen schlängelte sich der staubige Feldweg entlang, an dessen Beginn das Schild mit der verheißungsvollen Aufschrift London stand. Vom Dorf her bellte ein Hund, über die niedrigen strohgedeckten Hausdächer hob sich leuchtend die Morgensonne. Ihre Strahlen durchbrachen den Nebel, der auf dem Gras lag und ließen den Rittersporn auf den Feldern hell aufglühen. Aus dem Tal sah sie den Weidenbaum von Marmalon.
II
Lord Cavendor gehörte dem Geheimen Kronrat an, jener noch von Henry VII. ins Leben gerufenen obersten Regierungsbehörde, die sich ebenso aus Abkömmlingen hoher Aristokratie zusammensetzte wie aus Kaufleuten und Handwerkern, die Intelli— genz und Umsicht bewiesen und sich aus den ihnen angestammten Lebensumständen emporgearbeitet hatten. Der Kronrat war die höchste Institution im Staat und befugt, alle wichtigen Entscheidungen durch Abstimmung zu treffen; der König allerdings konnte mit einem einzigen Wort jedes im Laufe unzähliger Beratungen gewonnene Ergebnis vernichten. Zugleich legte Henry Wert darauf, mit seinen Regierungsbeamten in einem einigermaßen dauerhaften Einvernehmen zu stehen, denn wenn er auch das unantastbare, absolute Oberhaupt seines Reiches war, wußte er doch genau, daß die intriganten Spiele an seinem Hof Gott selber vom Thron hätten stürzen können und daß er an der Spitze eines Landes stand, in dem Unruhen gärten und brodelten. Er sah sich umgeben von einem feindlichen Europa: von einem wutschnaubenden Vatikan, von den Franzosen, mit denen er jahrelang im Krieg gelebt hatte, von den Spaniern, die wegen der Behandlung, die Katharina von Aragon am englischen Hof widerfuhr, in einen rachedurstigen Zorn gefallen waren, und von deren starken habsburgischen Verwandten, dem deutschen Kaiser Karl V. Henry konnte es sich nicht leisten, zu viele Feinde zu haben, und so räumte er seinen Beamten durchaus bemerkenswerte Rechte ein. Dadurch gewann der Kronrat eine politische
Bedeutung, deren sich seine Mitglieder sehr bewußt waren. Alle miteinander waren sie reich, angesehen und oft auch gefürchtet, und viele nutzten das aus, führten ein schillerndes, elegantes, großartiges gesellschaftliches Leben, wohnten in
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