Die stillen Wasser des Todes - Roman
dass sie schon rot wurde, wenn sie nur daran dachte. Hoffentlich nicht ganz so schlimm wie Doug. »Also ein kompletter Neustart?«, fragte sie stattdessen, ohne sich zu ihm umzudrehen.
»Absolut. Nur dass ich keine Ahnung habe, wo ich anfangen soll.« Er blickte sich im Zimmer um und wirkte ein wenig verloren, als wäre ihm eben erst richtig bewusst geworden, was er sich da vorgenommen hatte. Dann schob er seine Nickelbrille hoch und starrte sie an, als ob er nur auf einen Kommentar von ihr wartete. »Es gibt Leute, die behaupten, ich hätte keinen Geschmack.«
»Hmm.« Wenn sie sich seinen Anzug von der Stange und die fantasielose Krawatte so betrachtete, war Melody geneigt, sich dieser Meinung anzuschließen, doch das würde sie schön für sich behalten. Dougs Bemerkung hatte offensichtlich eine Vorgeschichte. »Aber was gefällt dir denn eigentlich?«
»Das ist ja eben das Problem.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich hasse meine Wohnung. Sie ist kahl und deprimierend. Und ich hasse das Haus meiner Eltern. Dunkel, muffig und vollgestopft mit dem Nippes meiner Mutter. Nie durfte man irgendetwas anfassen.«
»Da müsste es doch irgendwo eine goldene Mitte geben.« Melody drehte sich langsam im Kreis, während sie über die Räume nachdachte. Sie fragte sich, welche Prioritäten sie selbst setzen würde, wenn sie sich entschließen könnte, sich die Sachen ihrer Mutter vom Hals zu schaffen – die Sachen, die in das Stadthaus ihrer Eltern in Kensington einfach nicht mehr passten . »Ich würde damit anfangen, mir einfach erst einmal ein paar Sachen auszusuchen, die mir gefallen, ohne mir Gedanken darüber zu machen, ob sie zusammenpassen«, sagte sie. »Ich kenne da ein ganz tolles Auktionshaus in Chelsea, in der Lots Road, nahe beim Kraftwerk. Da könntest du dich mal umschauen und sehen, ob dich irgendwas anmacht.«
Du liebe Zeit, hatte sie wirklich anmacht gesagt? Was war nur los mit ihr heute?
Aber Doug schien sich keiner Zweideutigkeit bewusst. Er nickte und sagte: »Stimmt, das könnte ich machen«, als sei ihm die Idee völlig neu.
»Das wird schon werden, wart’s nur ab.« Melody fühlte sich plötzlich beengt, trotz der leeren Räume. »Ich finde, du hast da eine hervorragende Wahl getroffen. Das Haus gefällt mir richtig gut. Aber jetzt sollte ich besser nach Notting Hill zurückfahren.«
»Ich hab doch versprochen, dass ich dich zum Lunch einlade«, sagte er.
»Oh. Recht hast du.« Sie fragte sich, ob sie das Mittagessen ohne weitere Fettnäpfchen überstehen würde. »Was schwebt dir denn so vor?«
Er grinste. »Etwas ausgesprochen Passendes, denke ich, jetzt, wo ich dein dunkles Geheimnis kenne. Das Lokal heißt The Jolly Gardeners. «
Kieran schüttelte Tavies Hand ab, entriegelte Finns Box und befestigte die Leine am Halsband des Hundes. »Ich weiß, wer sie ist«, sagte er, ohne sich zu Tavie umzudrehen. Er traute weder seiner Mimik noch seiner Stimme, seit Tavie ihren Namen gesagt hatte, seit sie ihn so beiläufig hatte fallen lassen wie einen Stein, den man in den Fluss wirft.
Es hatte einen Moment gedauert, bis er die volle Tragweite der Information erfasst hatte. Rebecca. Rebecca Meredith. Für ihn war sie immer nur Becca gewesen.
Und er brachte sie auch nicht automatisch mit ihrem Nachnamen in Verbindung, wenngleich er ihn natürlich kannte, so wie jeder Ruderer. Aber Rebecca Meredith war für ihn eine Fremde; eine Frau, die Kostüme trug und an Wochentagen morgens nach London fuhr, wo sie auf einem Polizeirevier arbeitete; wo die Kaffeebecher aus Styropor, die sie geleert hatte, sich auf einem Schreibtisch sammelten, den er nie gesehen hatte. Eine Frau, die einmal mit diesem Atterton verheiratet gewesen war. Er wusste jetzt, warum Attertons Gesicht ihm so bekannt vorgekommen war. Er hatte eine jüngere Version davon auf einigen alten Fotos gesehen, die ganz hinten in einem Bücherregal in Beccas Wohnzimmer Staub ansetzten.
Rebecca Meredith, das war nicht die Frau, für die Rudern so natürlich war wie Atmen; die lachte, wenn sie sich eine feuchte Haarsträhne aus den Augen wischte und ein Boot auf ihre Hüfte hob – oder die Bettdecke über ihre nackte Schulter zog, die im Schein der Lampe golden glänzte.
»Becca«, flüsterte er. Bitte, lass es nicht Becca sein. Aber er wusste nur zu gut, dass sie in der Abenddämmerung ruderte, und seine einzige Hoffnung war, dass es irgendeine vollkommen rationale Erklärung für ihr Verschwinden gab. Er ließ seine
Weitere Kostenlose Bücher