Die stillen Wasser des Todes - Roman
wurde oft vom Gedanken an den drohenden Verlust getrübt. Eines Tages würden sie es aufgeben müssen.
»Und was hat Charlotte sich ausgesucht?«, fragte Melody.
Gemma lächelte, als sie sich an die Szene erinnerte. »Aus der Küche einen alten Eierbecher mit einem Hühnerfuß. Ich kann mir vorstellen, dass ihre Mutter ihn irgendwo auf einem Flohmarkt erstanden hat. Er ist potthässlich, aber Charlotte liebt ihn heiß und innig. Aus dem Wohnzimmer wollte sie die Chaiselongue.«
Charlotte hatte von der »Crazy Chase« gesprochen, und Gemma hatte eine Weile gebraucht, bis sie begriff, dass die Chaiselonge mit dem Crazy-Quilt-Bezug gemeint war. Aber auch sie hatte das ausgefallene Möbelstück von Anfang an gemocht – es schien ihr so viel von Sandra Gilles’ Persönlichkeit auszudrücken.
Um Charlotte offiziell in Pflege nehmen zu können, hatten sie die Vorgaben des Jugendamts erfüllen müssen, und dazu gehörte, dass Toby wieder zu Kit ziehen musste, damit Charlotte ihr eigenes Zimmer bekam – das Zimmer, das eigentlich für das Baby gedacht gewesen war, das Gemma verloren hatte.
Sie hatten es mit den Möbeln aus Charlottes Zimmer in der Fournier Street eingerichtet, und in ihrem neuen Reich war auch noch genug Platz für die »Crazy Chase« gewesen. Als Gemma ihr gesagt hatte, sie könne sich aussuchen, in welcher Farbe sie das Zimmer gestrichen haben wollte, hatte Charlotte nicht etwa ein kleinmädchenhaftes Pink gewählt, und auch nicht Blau oder gar Lila, sondern ein sattes Safrangelb, das mit der dominierenden Farbe des Sofabezugs harmonierte und an den Wänden leuchtete wie destilliertes Sonnenlicht. Das Kind hatte ohne Zweifel das Künstlerauge seiner Mutter geerbt.
»Aus dem Elternschlafzimmer wollte sie die Unterröcke ihrer Mutter«, fuhr Gemma fort, »allerdings habe ich auch die Knospenvasen aus Buntglas mitgenommen, die Sandra auf dem Sims der Wandverkleidung stehen hatte.
Und aus Sandras Atelier wollte Charlotte die Malstifte. Als ich sie darauf aufmerksam machte, dass sie die schon hat, da wünschte sie sich das Gemälde mit dem roten Pferd, das über dem Schreibtisch ihrer Mutter hing.«
»Das ist nicht von Sandra, oder?«
»Nein. Wenn du es genau wissen willst: es ist mit LR signiert, und Duncan sagt, er habe ein fast identisches Gemälde über Lucas Ritchies Schreibtisch in dem Club in der Artillery Lane hängen sehen.«
»Ah, dann denkst du also, dass es ein Werk des reizenden Mr. Ritchie ist?«
»Vielleicht. Es wäre eine nette Verbindung zwischen Charlotte und dem alten Freund ihrer Mutter. Wir müssen ihn irgendwann einmal danach fragen.«
»Da komme ich mit«, erklärte Melody, und Gemma lachte.
»Ich wusste ja gar nicht, dass du auf ihn stehst«, sagte sie. Lucas Ritchie war der Geschäftsführer eines Privatclubs in Whitechapel, doch er war mit Charlottes Mutter Sandra auf der Kunsthochschule gewesen. Außerdem war er groß und blond und verdammt attraktiv und offenbar auch ziemlich wohlhabend.
»Ich bin eine Frau. Ich bin Single. Und ich bin nicht blind.« Melody nahm einen großen Schluck Wein, um ihre Feststellungen zu unterstreichen, hustete und wischte sich die tränenden Augen.
»Schon klar«, meinte Gemma, immer noch grinsend. »Aber was mir nicht so klar ist: Was hast du eigentlich heute bei Doug Cullen gemacht?«
»Ah.« Melodys Gesichtsausdruck bekam etwas Geheimnisvolles. »Er hat mich eingeladen, sein neues Haus anzuschauen. In Putney. Er muss noch einiges dran machen. Und ich habe angeboten, ihm mit dem Garten zu helfen.«
Gemma zog erstaunt die Augenbrauen hoch und fragte: »Hast du denn überhaupt schon mal gegärtnert?« Soweit sie wusste, war Melody in einem Stadthaus in Kensington aufgewachsen, in einem Haushalt, in dem es an nichts fehlte. Wenn ein Garten dazugehört hatte, dann auf jeden Fall mit eigenem Gärtner.
»Nein. Aber es ist bestimmt spannend.«
Gemma betrachtete verwundert ihre Freundin. Sie vermochte sich kaum ein unwahrscheinlicheres Szenario vorzustellen als Doug Cullen beim Heimwerken in seinem neuen Haus, während Melody sich draußen als Gärtnerin versuchte. »Du musst ja verzweifelt auf der Suche nach Abwechslung sein.«
»Das sag ich doch die ganze Zeit, dass die Arbeit ohne dich nicht halb so viel Spaß macht, Gemma«, erwiderte Melody. »Und apropos Arbeit« – sie setzte sich betont gerade hin und stellte ihr geleertes Weinglas auf den Tisch – »das wollte ich dir schon die ganze Zeit erzählen. Ich habe mich zum
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