Die stillen Wasser des Todes - Roman
Gemma wieder ein, dass sie es gewesen war, die Rashid von der Beratungsstelle erzählt hatte. Wie typisch für ihn, dass er sofort ganz unkompliziert seine Hilfe angeboten hatte. Und dass er sich dieser jungen Frau, die jetzt ohne Naz’ und Sandras Unterstützung dastand, als Mentor zur Verfügung stellte.
Aber Alia war jung und leicht zu beeinflussen, und bei Rashid Kaleems Anblick konnten durchaus auch ältere und klügere Frauen ins Schwärmen geraten. Gemma hoffte nur, dass er dem Mädchen nicht unwissentlich das Herz brechen würde.
»Oh, toll. Das ist wirklich fantastisch«, sagte sie, als sie Alias enttäuschte Miene bemerkte.
»Lia, ich will Lastwagen«, sagte Charlotte und rettete damit Gemma aus der peinlichen Situation. Sie rollte einen von Tobys Spielzeuglastern über den Tisch. »Können Lastwagen auch Tee trinken?«
Sie thronte hoch auf dem Küchenstuhl neben Alia und ließ ihre Füße baumeln, die in kleinen Turnschuhen steckten. Eine der Spangen, die ihr Gemma am Morgen so sorgfältig ins Haar gesteckt hatte, schien sich gelöst zu haben, und ihr T -Shirt war vorne mit Matsch verschmiert – wenigstens hoffte Gemma, dass es Matsch war. Sie ist so gar nicht das zarte Püppchen, als das ich sie zuerst gesehen hatte, dachte Gemma … nicht, dass sie gewusst hätte, was sie mit so einem Püppchen anfangen sollte.
»Lastwagen trinken Diesel«, erklärte Alia, »aber heute dürfen sie vielleicht ausnahmsweise mal Tee trinken.« Sie warf Gemma einen vielsagenden Blick zu und formte mit den Lippen: »Gehen Sie!«
»Okay.« Gemma rückte den Riemen ihrer Handtasche auf der Schulter zurecht. »Sie haben ja meine Handy…«
»Aber klar doch.« Alia verdrehte die Augen.
»Gut.« Gemma gab sich geschlagen. »Dann also bis später.« Sie musste sich beherrschen, um Charlotte nicht zum Abschied noch einmal zu drücken. Schließlich wollte sie dem Kind ja das Klammern abgewöhnen, mahnte sie sich, und es nicht noch darin bestärken. Sie holte tief Luft, winkte den beiden fröhlich zu und ging rasch hinaus, ehe sie es sich noch einmal anders überlegen konnte.
Doch als sie erst einmal draußen war, schien der sonnige Tag sie willkommen zu heißen, und sie empfand ihre plötzliche Freiheit als belebend und stärkend. Sogleich marschierte sie los und genoss es, mal wieder so richtig herzhaft und ungehindert gehen zu können, im Erwachsenentempo eben. Als sie in die Lansdowne Road einbog, beschloss sie, auf dem Weg zum Revier einen kleinen Umweg zu machen.
Zehn Minuten später betrat sie das Revier Notting Hill, beladen mit zwei Ca ffè -Latte-Bechern vom Starbucks in der Holland Park Avenue. Melody hatte ihr schon so oft Kaffee gebracht, da wurde es Zeit, dass sie sich einmal revanchierte.
»Inspector!« Der Wachhabende, ein grauhaariger Schotte namens Jonnie, der in Notting Hill schon lange vor Gemmas Zeit zum Inventar gehört hatte, strahlte sie an, als wäre sie eine lang verschollene Verwandte. »Was sehen meine müden Augen? Ich dachte, Sie sollten erst am Montag wiederkommen?«
»Stimmt schon«, erklärte Gemma. »Ich wollte nur mal auf einen Plausch bei Melody vorbeischauen.« Zur Bekräftigung hielt sie die Pappbecher hoch.
»Wie geht’s denn dem neuen Familienmitglied?«, fragte er. »Haben Sie ein Foto dabei?«
»Mehr als eins sogar«, antwortete Gemma lächelnd. Sie stellte die Kaffeebecher auf dem Tresen ab und zog ihr Handy aus der Tasche.
Sie rief die Fotos von Charlotte auf und zeigte sie dem Sergeant, der sich unter bewundernden Kommentaren durch die Bilder klickte. »Was für ein süßes Mädel«, sagte er, als er ihr das Handy zurückgab. »Sie werden die Kleine bestimmt vermissen, wenn Sie wieder arbeiten.«
»Ja, aber den Laden hier vermisse ich auch. Es wird mir guttun, wieder –«
»Chefin?« Melody trat durch die Tür des Empfangsbereichs. »Jemand hat gesagt, du wärst hier.«
»Die mysteriöse Polizeirevier-Telepathie«, meinte Gemma grinsend. »Hab nie begriffen, wie das funktioniert. So eine Art Flurfunk der übersinnlichen Art.« Jetzt fühlte sie sich wirklich wie zu Hause.
»Oh, Kaffee – super! Vielen Dank.« Melody nahm den heißen Becher und ging voran ins Innere des Gebäudes. »Ich habe vorübergehend das Sapphire-Büro in Beschlag genommen. Mike und Ginny sagen beide gerade vor Gericht aus.«
Während sie den Flur entlanggingen, hatte Gemma das Gefühl, dass das Revier sie mit offenen Armen empfing. Der leise Geruch nach Frittenfett aus der Kantine, das Auf
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