Die Stimme des Herrn.
sie, an einer Mauer zusammengedrängt, die ihren Rücken wärmte wie ein riesenhafter Ofen, nicht sehen, denn die Exekution fand hinter einem anderen Mauerrest statt. Manche, die wie er darauf warteten, daß sie an die Reihe kämen, verfielen in eine Art Starre, andere versuchten, sich zu retten – auf wahnwitzige Weise.
Er erinnerte sich an einen jungen Mann, der auf einen deutschen Gendarmen zusprang und rief, er sei kein Jude, aber das auf jiddisch rief, weil er bestimmt gar nicht Deutsch konnte. Rappaport empfand die irrsinnige Komik dieser Situation, und mit einemmal erschien es ihm als das Wichtigste, bis zuletzt den klaren Verstand zu behalten, was ihm helfen würde, die intellektuelle Distanz zu dieser Szene zu wahren. Er mußte jedoch – so erklärte er mir langsam und sachlich, mir, dem Menschen »von der anderen Seite«, der grundsätzlich außerstande ist, diese Erfahrungen nachzuvollziehen – irgendeinen äußeren Wert finden, etwas, was seinem Intellekt einen Halt geben konnte, und da das völlig unmöglich war, beschloß er, an die Reinkarnation zu glauben. Diesen Glauben fünfzehn bis zwanzig Minuten lang aufrechtzuerhalten, würde genügen. Aber auf so abstrakte Weise war er selbst dazu nicht fähig, also suchte er sich aus einer Gruppe von Offizieren, die in einiger Entfernung vom Exekutionsplatz standen, einen aus, der sich durch sein Äußeres abhob.
Er beschrieb ihn mir wie von einer Fotografie. Es war ein junger, vollkommener Kriegsgott, groß, stattlich, in der Felduniform, auf deren silbernen Kragenspiegeln ein grauer Schimmer zu liegen schien, wie ein Hauch von Glut und Asche. Er war in voller Feldausrüstung: Eisernes Kreuz am Halse, Fernglas auf der Brust, Stahlhelm, die Pistole am Koppel handlich nach vorn geschoben, und in der behandschuhten Hand hielt er ein Taschentuch, sauber und sorgfältig gefaltet, das er von Zeit zu Zeit gegen die Nase drückte, weil die Erschießungen schon lange dauerten – seit dem frühen Morgen –, so daß die Flammen einen Teil der eher Hingerichteten in einer Hofecke erfaßt hatten und von dort der heiße Gestank verbrannter Leiber herüberwehte. Im übrigen, auch das hatte Rappaport nicht vergessen, war ihm der süßliche Leichengeruch in der Luft erst bewußt geworden, als er das Taschentuch in der Hand »seines« Offiziers erblickte. Er sagte sich, in dem Moment, da er erschossen werden würde, werde sein Geist in den Körper eben jenes Deutschen fahren.
Er wußte ganz genau, daß die Vorstellung kompletter Unsinn war, und zwar im Lichte jeder metaphysischen Lehre, die Reinkarnationslehre eingeschlossen, weil »der Platz im Körper« schon besetzt war. Doch irgendwie störte ihn das nicht, gewiß, je länger und gieriger er seinen Blick in den »Auserwählten« bohrte, um so besser gelang es ihm, sich an seinen Gedanken zu klammern, der ihm bis zur letzten Minute Halt sein sollte, so daß ihm im gewissen Sinne die Unterstützung dieses Mannes gehörte. Er sollte ihm helfen.
Rappaport sprach ganz ruhig, doch in seinen Worten schwang, wollte mir scheinen, etwas wie Bewunderung für diesen jungen Gott, der die ganze Operation so vollendet dirigierte, ohne sich vom Fleck zu rühren, ohne zu brüllen, ohne in jenen halbtrunkenen Trancezustand des Schlagens und Tretens zu verfallen, in welchem seine Untergebenenarbeiteten, mit den Blechschildern vor der Brust. In jenem Augenblick war Rappaport sogar das eine aufgegangen: daß diese Untergebenen so handeln mußten, daß sie sich vor ihren Opfern in den Haß gegen sie flüchteten und daß sie diesen Haß ohne brutale Handlungen nicht in sich erzeugen konnten. Sie mußten mit Gewehrkolben auf die Juden eindreschen, das Blut mußte aus den aufgeplatzten Schädeln strömen und die Gesichter verkrusten, weil sie dadurch monströs, menschenunähnlich wurden und weil so, ich wiederhole Rappaports Worte, in den Handlungen jener nicht der Riß entstand, aus welchem Entsetzen oder Erbarmen hervortreten konnten.
Doch der junge Gott in der grau und silbern verbrämten Uniform war auf derlei Praktiken nicht angewiesen, um tadellos zu funktionieren. Er stand an einem leicht erhöhten Platz und drückte das weiße Taschentuch mit einer Gebärde an die Nase, in der zugleich etwas Salonhaftes und Einsames lag – der gute Gastgeber und der Führer in einer Person. Durch die Luft schwebten Rußfetzen, von der Hitze hochgetrieben, die von dem Feuer kam. Hinter den dicken Mauern, in den vergitterten, scheibenlosen
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