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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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dieser äußere Anschein verwirrte sie etwas, darum waren sie gezwungen, diese Körper zu massakrieren, damit sie menschlichen Körpern nicht mehrähnelten. Er aber brauchte solche primitiven Methoden nicht mehr. Eine derartige Erklärung wird in der Regel für ein Gleichnis angesehen, für eine Art Fabel, aber sie ist ganz wörtlich gemeint.«
    Wir sprachen dann nie wieder über diesen Teil seiner Vergangenheit, und auch andere berührten wir nicht mehr. Es mußte erst eine gewisse Zeit verstreichen, bis mir, wenn ich Rappaport sah, nicht mehr instinktiv jene Szene vor Augen trat, die er mir so plastisch ausgemalt hatte: der Gefängnishof mit den Bombentrichtern, die vom Blut, das aus den von Gewehrschlägen zertrümmerten Schädeln rann, rot und schwarz geäderten Gesichter und der Offizier, in dessen Körper er – betrügerisch – hatte schlüpfen wollen. So vermag ich denn auch nicht zu sagen, inwieweit er noch immer in dem Bewußtsein lebte, daß er der Vernichtung entgangen war. Im übrigen war Rappaport ein sehr vernünftiger und zugleich recht ulkiger Mann – ich werde mir seinen Groll zuziehen, wenn ich verrate, wie sehr es mich amüsierte – was ich im übrigen rein zufällig beobachtet hatte –, auf welche Weise er allmorgendlich sein Zimmer verließ. Hinter der Korridorbiegung im Hotel hing ein großer Spiegel. Rappaport, der ein Magenleiden hatte und dessen Taschen stets mit Fläschchen voll kunterbunter Pillen vollgestopft waren, streckte immer, wenn er sich morgens zum Fahrstuhl begab, vor dem Spiegel die Zunge heraus, um nachzusehen, ob sie nicht belegt sei. Er tat das Tag für Tag, so daß ich, hätte er es plötzlich unterlassen, gedacht haben würde, ihm sei etwas Außerordentliches zugestoßen.
    Auf den Sitzungen des Wissenschaftlichen Rates ödete er sich unverhohlen, und besonders allergisch zeigte er sich gegen die übrigens seltenen und im allgemeinen taktvollen Auftritte des Dr. Wilhelm Eeney. Wer nicht recht aufgelegt war, Eeney zuzuhören, konnte die mimische Begleitung seiner Worte auf Rappaports Gesicht verfolgen. Er verzog die Miene, als sei ihm plötzlich etwas Scheußliches auf dieZunge geraten, faßte sich an die Nase, kratzte sich hinterm Ohr, schielte von unten zu dem Redner hinauf, mit einem Gesichtsausdruck, der zu besagen schien »Das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst …«, und als ihn Eeney einmal, weil er es nicht länger aushielt, geradezu fragte, ob er etwas dazu äußern möchte, erklärte er naiv erstaunt, vielmals den Kopf schüttelnd und die Arme ausbreitend, nein, er habe nichts, absolut gar nichts zu bemerken.
    Ich beschreibe dies des langen und des breiten, um dem Leser die Zentralgestalten des Projekts von der weniger offiziellen Seite vorzuführen, und zugleich, um ihm Einblick in die spezifische Atmosphäre eines von der Außenwelt hermetisch abgeschlossenen Milieus zu verschaffen. Jene Zeit, da sich so unglaublich verschiedengeartete Geschöpfe, wie beispielsweise Baloyne, Eeney, Rappaport und ich, an einem Ort zusammenfanden, und zwar mit der Mission, »den Kontakt anzuknüpfen«, was uns zu bevollmächtigten diplomatischen Vertretern der Menschheit gegenüber dem Weltall machte, regt durch ihre Besonderheit wahrlich zum Nachdenken an.
    Wenngleich wir so verschieden waren, bildeten wir, nachdem wir uns zu jenem den »Sternenbrief« untersuchenden Organismus vereinigt hatten, doch ein Team mit eigenen Verhaltensnormen, eigenem Tempo, eigenen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen mit deren feinen offiziellen, halboffiziellen und privaten Abstufungen – was insgesamt »den Geist der Institution« ausmachte, aber auch noch etwas darüber hinaus, was ein Soziologe am ehesten als »lokale Subkultur« bezeichnen würde. Dieses Klima innerhalb des Projekts, das in seiner dynamischsten Phase immerhin fast dreitausend Leute beschäftigte, war gleichermaßen spürbar und spezifisch wie – besonders auf die Dauer – belastend, jedenfalls für mich.
    Lee Rainhorn, einer von den älteren Mitarbeitern des Projekts, der als noch ganz junger Physiker damals beim»Manhattanprojekt« dabeigewesen war, sagte mir, die Atmosphäre bei diesen beiden Unternehmungen sei in jeder Hinsicht unvergleichbar, weil die Leute beim »Manhattanprojekt« zu einer von der Natur her typisch naturwissenschaftlichen, physikalischen Erkundungsfahrt ausgeschickt worden seien, während wir bei unserem gewissermaßen mit Haut und Haar im Innern der menschlichen Kultur festsäßen und uns aus

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