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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Fenstern prasselten die Flammen, aber nicht ein Rußstückchen ging auf den Offizier oder auf sein weißes Taschentuch nieder.
    Im Angesicht solcher Vollkommenheit gelang es Rappaport, sich selber zu vergessen, als plötzlich das Tor aufging und ein Filmstab in den Hof einfuhr. Befehle wurden auf deutsch erteilt, und schlagartig verstummten die Schüsse. Rappaport wußte weder damals noch zu dem Zeitpunkt, als er mir das erzählte, was passiert war. Vielleicht hatten die Deutschen vor, den Leichenberg zu filmen und aus den Bildern eine Szene für die Wochenschau zu machen, die das Vorgehen des Feindes veranschaulichen sollte – die Sache spielte sich an der Ostfront ab. Die erschossenen Juden würden als Opfer der Bolschewiken gezeigt werden. Möglich, daß es so war, Rappaport gab jedoch keine Deutung, sondern erzählte nur, was er mit angesehen hatte.
    Gleich darauf kam es zu seinem Versagen. Die Überlebenden wurden in einer Reihe aufgestellt und gefilmt, worauf der Offizier mit dem Taschentuch verlangte, es solle einer freiwillig vortreten. Rappaport war sich sofort im klaren, daß er es tun mußte. Er wußte nicht genau, weshalb, doch er spürte, wenn er es nicht tat, hätte das für ihn schreckliche Folgen. Er gelangte an einen Punkt, da sich die ganze Kraft des gedanklichen Entschlusses in den einen Schritt nach vorn umsetzen sollte – aber er stand wie angewurzelt. Da gab ihnen der Offizier fünfzehn Sekunden Bedenkzeit, drehte ihnen den Rücken und unterhielt sich leise, lässig mit einem jüngeren.
    Rappaport als Doktor der Philosophie mit einer glänzenden Logik-Dissertation, der er seinen wissenschaftlichen Grad verdankte, brauchte nicht erst einen ganzen Apparat von Syllogismen, um zu begreifen, daß, wenn keiner vortrat, alle sterben würden, daß also der, der jetzt aus der Reihe trat, eigentlich nichts mehr riskierte. Das war einfach, klar und sicher. Er machte neuerlich eine Anstrengung, freilich schon, ohne selbst daran zu glauben – und wieder rührte er sich nicht vom Fleck. Wenige Sekunden bevor die Zeit abgelaufen war, meldete sich schließlich jemand, verschwand mit zwei Soldaten hinter dem Mauerrest, und es fielen mehrere Pistolenschüsse. Danach kehrte der junge Freiwillige, mit seinem eigenen und mit fremdem Blut besudelt, in die Schar zurück.
    Es wurde schon dunkel, als das große Gittertor aufging und die Überlebenden in der kühlen Abendluft in die leeren Straßen hinaustaumelten.
    Sie trauten sich nicht, gleich loszulaufen, aber es scherte sich ganz einfach niemand mehr um sie. Rappaport wußte nicht, warum. Die Handlungsweise der Deutschen zu analysieren, darauf ließ er sich nicht ein. Sie hatten sich verhalten wie das Schicksal, das man nicht unbedingt deuten muß.
    Der Freiwillige hatte – muß man das noch sagen? – die Leiber der Exekutierten untersucht, und denen, die noch lebten, war der Gnadenschuß gegeben worden. Als wollte er prüfen, ob er recht gehabt und ich von der Geschichte wirklich nichts begriffen habe, fragte mich Rappaport hinterher, warum der Offizier wohl einen Freiwilligen gefordert habe und bereit war, falls sich der nicht fand, alle noch übrigen zu töten, obwohl das gewissermaßen »nicht mehr nötig« war, zumindest nicht an diesem Tag – wobei eine Erklärung, daß dem Freiwilligen nichts passieren werde, für ihn überhaupt nicht in Betracht kam. Ich gestehe, daß ich diese Prüfung nicht bestand, denn ich sagte, der Deutsche habe vermutlich aus Verachtung gehandelt, um sich mit den Opfern nicht in ein Gespräch einzulassen. Rappaport schüttelte verneinend seinen Vogelkopf.
    »Ich habe es erst später begriffen«, sprach er, »auf Grund anderer Dinge. Obwohl er zu uns sprach, waren wir keine Menschen. Er wußte, daß wir grundsätzlich die menschliche Sprache verstanden, aber dennoch keine Menschen waren, und er wußte es genau. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er uns also nicht aufklären können. Er konnte mit uns tun und lassen, was er wollte, aber er konnte nicht mit uns verhandeln, denn wer verhandelt, braucht einen Partner, der ihm wenigstens in einem Punkte ebenbürtig ist, und auf diesem Hof gab es nur ihn und seine Leute. Darin steckt ein logischer Widerspruch, gewiß, aber er handelte eben nach diesem Widerspruch, und zwar präzise. Die einfacheren unter seinen Leuten waren nicht im Besitz dieses höheren Geheimnisses. Unsere Körper, unsere zwei Beine, die Gesichter, Arme machten, daß wir äußerlich wie Menschen wirkten, und

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