Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
Vom Netzwerk:
der Kraft seines Verstandes wie der Elefant der Kraft seiner Muskeln, das heißt – auf Kommando. Das ist unerhört bequem, denn der Wissenschaftler findet sich zu allem bereit, weil er für nichts mehr die Verantwortung trägt. Die Wissenschaft wird zum Orden für Kapitulanten. Das logische Kalkül soll zum Automaten werden, der den Moralisten Mensch ersetzt. Wir erliegen der Erpressung des ›besseren Wissens‹, das sich zu behaupten erdreistet, der Atomkrieg könne etwas sekundär Gutes sein, weil sich das aus der Arithmetik ergibt. Das Böse von heute entpuppt sich als das Gute von morgen, ergo – das Böse ist in gewisser Hinsicht auch gut. Der Verstand hört nicht mehr auf die intuitiven Einflüsterungen des Gefühls, die Harmonie einer vollkommen konstruierten Maschine wird zum Ideal, die Zivilisation insgesamt und jedes ihrer einzelnen Mitglieder soll dazu werden.
    Damit hat man anstelle der Mittel der Zivilisation ihren Zweck gesetzt, und die menschlichen Werte gegen Bequemlichkeiten eingetauscht. Die Regel, welche gebietet, den Flaschenkorken durch eine Verschlußkapsel zu ersetzen und die Kapsel durch ein Plasthütchen, das beim kleinsten Antippen abspringt, ist harmlos – als Folge von Vervollkommnungen, die uns das Öffnen einer Flasche erleichtern. Dieselbe Regel, auf die Perfektionierung des menschlichen Hirns angewandt, wird zum puren Wahnsinn. Jeder Konflikt, jedes schwierige Problem wird zum widerspenstigen Korken, den man wegwerfen und durch das entsprechende leichtere Ding ersetzen muß. Baloyne hat das Projekt ›Master’s Voice‹ getauft, weil diese Losung zweideutigist: Der Stimme welches Herrn eigentlich sollen wir lauschen – des Herrn von den Sternen oder des Herrn aus Washington? Im Grunde genommen ist das eine ›Lemon Squeeze-Operation‹: Wir quetschen nicht unseren Grips, sondern die kosmische Botschaft aus wie eine Zitrone, doch wehe den Auftraggebern und ihren Dienern, wenn es wirklich gelingt.«
    Mit solcherart abendlichen Gesprächen vergnügten wir uns im zweiten Jahr der »MAVO«-Arbeiten, in der immer dichter werdenden Atmosphäre schlimmer Vorahnungen, die sich bald bestätigen sollten, denn nicht mehr lange, und unsere zunächst nur ironisch gemeinte »Lemon SqueezeOperation« füllte sich mit unheimlichem Inhalt.

X
    Obwohl der »Froschlaich« und der »Herr der Fliegen« die gleiche Substanz war, die die Gruppe der Biophysiker und die der Biologen nur auf verschiedene Weise aufbewahrten, so wurde doch auf dem jeweiligen Gelände ausschließlich der lokal verbindliche Name gebraucht, worin sich, wie ich bei mir dachte, ein gewisser feiner Charakterzug der Geschichte der Wissenschaft offenbarte. Denn weder die zufälligen Windungen, in denen die Wege der Forschung verlaufen, noch die akzidentiellen Umstände, die die Geburt einer Entdeckung begleiten, fallen vollständig von deren endgültiger Gestalt ab. Gewiß, es ist nicht einfach, diese Relikte zu erkennen, eben weil sie, erstarrt, bis ins Innere der Theorie und sämtlicher nachfolgender Formulierungen vordringen, weil sie aufgeprägte Spur, Stempel des Zufalls sind, der zur Denkregel versteinert.
    Bevor ich den »Froschlaich« zum erstenmal bei Romney zu Gesicht bekam, mußte ich die bereits klassische Prozedur über mich ergehen lassen, die für Neuankömmlinge aus der Außenwelt obligatorisch war. Ich hörte mir zuerst jenen Kurzvortrag vom Tonband an, den ich zitiert habe. Dann fuhr ich zwei Minuten mit der U-Bahn zum Gebäude der Chemosynthese, wo man mir in einem Extrasaal das dreidimensionale Modell eines einzigen »Froschlaich«Moleküls vorführte, das unter einer zweigeschossigen Glasglocke aufragte und aussah wie das zu den Dimensionen eines Atlantosauriers vergrößerte Skelett eines Wasserflohs. Weintraubenartige schwarze, purpurrote, violette und weiße Kugeln, durch durchsichtige Polyäthylenröhrchen miteinander verbunden, stellten die einzelnen Atomgruppen dar. Der Stereochemiker Marsh zeigte mir die einzelnen Ammoniumradikale, die Alkylgruppen und die seltsamen Blumen ähnelnden »Molekularreflektoren«, diedie bei den Kernreaktionen entstehende Energie absorbierten. Besagte Reaktionen wurden demonstriert, indem man eine Apparatur einschaltete, die abwechselnd im Innern des Modells verborgene Neonröhrchen und Lämpchen aufleuchten ließ, wodurch das Ganze wirkte wie die Kreuzung zwischen einer futuristischen Reklame und einem Weihnachtsbaum. Weil man es von mir erwartete, tat ich meine Bewunderung

Weitere Kostenlose Bücher