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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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versucht. Jene Masse hinterm Glas schien durch eine unbekannte Kraft auf mich einzuwirken – indem sie langsam, aber unablässig auf der Stelle kroch.
    Grotius schob mich höflich, aber entschieden von der Nische weg, schloß die Panzertür wieder und förderte aus einem Brotbeutel, der ihm über die Schulter hing, einen Glaskolben zutage, an dessen Wänden ein paar gemeineStubenfliegen krabbelten. Als er den Kolben an die geschlossene Klappe heranführte, und er tat dies mit bestimmter und zugleich feierlicher Gebärde, erstarrten die Fliegen zunächst, dann entfalteten sie ihre Flügel, und eine Sekunde später wirbelten sie wie wahnsinnige schwarze Kügelchen in dem Gefäß herum, so daß ich ihr giftiges Brummen zu hören glaubte. Er führte den Kolben noch etwas dichter an die Klappe heran: Die Fliegen tobten immer toller, dann steckte er den Kolben weg, machte kehrt und ging zurück in die Küche.
    So hatte ich endlich erfahren, woher der Name rührte. Der »Herr der Fliegen« war einfach das gleiche wie der »Froschlaich«, allerdings im Falle einer Menge von weit über 200 Liter. Zwischen beiden Erscheinungsformen gab es im übrigen einen allmählichen Übergang. Was den wirklich seltsamen Effekt mit den Fliegen betraf, so hatte niemand auch nur die blasseste Vorstellung, worauf er zurückzuführen war, zumal er – von den Fliegen abgesehen – nur bei sehr wenigen Hautflüglern auftrat. Spinnen, Käfer und eine Vielzahl anderer Insekten, die die Biologen geduldig vor jenen Spalt getragen hatten, reagierten überhaupt nicht auf das Vorhandensein der Substanz, die durch die in ihrem Innern ablaufenden Reaktionen erwärmt war. Man sprach von Wellen, Strahlen, zum Glück nicht auch noch von Telepathie. Bei Fliegen, deren Bauchganglien man pharmakologisch gelähmt hatte, blieb die Wirkung aus. Aber diese Feststellung war eigentlich banal. Man betäubte die unglücklichen Fliegen, schnitt der Reihe nach ab, was sich nur abschneiden ließ, legte ihnen abwechselnd Beinchen und Flügelchen lahm, doch am Ende hatte man nur herausgefunden, daß eine dicke Schicht des Dielektrikums den Effekt wirkungsvoll abschirme. Es war also ein physikalischer und kein »Wundereffekt«. Gewiß. Doch nach wie vor wußte man nicht, wodurch er hervorgerufen wurde. Man versicherte mir, daß die Sache geklärt werden würde – eineExtragruppe von Bionikern und Physikern arbeitete schon daran. Falls sie etwas entdeckt haben sollte, so ist mir jedenfalls bis heute nichts davon bekannt.
    Im übrigen war der »Herr der Fliegen« für lebende Organismen in seiner Nähe nicht gefährlich. Nicht einmal den Fliegen war ja letztlich ein Leid geschehen.

XI
    Als der Herbst anbrach, nur dem Kalender nach, denn die Sonne stand wie im August über der Wüste, machte ich mich von neuem – obwohl ich schwerlich sagen kann, auch mit neuen Kräften – an den Code. Das, was als der größte Erfolg des Projekts galt und in technischer Hinsicht ganz gewiß auch war, die Synthese des »Froschlaichs«, vernachlässigte ich nicht nur, sondern überging es im Grunde genommen ganz in meinen Spekulationen, als betrachtete ich dieses seltsame Produkt als ein Artefakt. Seine Schöpfer warfen mir vor, ich ließe mich von einem irrationalen Vorurteil leiten, das in einer persönlichen Aversion gegen jene Substanz begründet wäre, wenngleich das lachhaft klang. Sie unterstellten mir auch, Dill beispielsweise, das dramatisch-weihevolle Gehabe, das die Mitglieder beider Gruppen dem »Nuklearschleim« gegenüber an den Tag legten, habe eine gewisse Reserviertheit bei mir ausgelöst, die ich dann auf den »Herrn der Fliegen« selbst übertragen habe, oder aber ich habe es den Empirikern verübelt, daß sie zu dem einen Geheimnis, dem Code, noch ein zweites hinzugefügt hatten – jenes Erzeugnis von unbekannter Bestimmung.
    Ich pflichtete dem nicht bei, denn auch der RomneyEffekt hatte unsere Unwissenheit vergrößert, doch gerade in ihm sah ich ja, damals zumindest, eine gewisse Aussicht, hinter die Absicht der Absender zu kommen und damit hinter den Inhalt der Botschaft. In der Hoffnung, meine Vorstellungskraft anzuregen, studierte ich eine Unmenge von Arbeiten über die Geschichte der Entschlüsselung des genetischen Codes beim Mensch und beim Tier. Mitunter glaubte ich dunkel zu ahnen, der besagte »Doppelcharakter« jedes Organismus – der ja zugleich er selbst und Träger einer Information ist, die weiterwirkend an künftige Zeiten, an nachfolgende

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