Die Stimmen des Flusses
er hätte ihr gerne dabei zugesehen, aber er drehte sich zur Wand, weil er nicht wollte, daß Mamà etwas merkte, und sagte, er werde am Montag zurückfahren, sie solle Jacinto sagen, daß er ihn am Montag morgen abholen solle, nein, diesen Montag ist kein Unterricht, es wird gestreikt. Ja, natürlich werde er vorsichtig fahren, weißt du denn nicht, daß ich die Tuca Negra kenne wie meineWestentasche? Ach, und außerdem hat Quique gesagt, auf zweitausenddreihundert Metern könnte man in Richtung Batllia eine schwarze Piste anlegen, man müßte nur einen Sessellift aufstellen und ein paar Felsbrocken absprengen. Ja, Mamà. Er hängte auf, mit dem Gesicht zur Wand, und verfluchte seine Mutter, die von Madrid aus nur angerufen hatte, um ihn zu kontrollieren und ihn zu demütigen, vor wem auch immer, denn Marcel wußte, daß sie das mit dem Streik am Montag nicht geglaubt hatte, und sicher würde es am Montagabend ein Donnerwetter geben, wenn sie auf dem Rückweg nach Casa Gravat einen Zwischenstop in Barcelona einlegte, und Marcel wußte, daß sie wußte, daß er nicht gelogen hatte, als er sagte, er sei gerade dabei gewesen, ins Bett zu gehen.
»Ja, Mamà.«
Marcel drehte sich um, getroffen von Lisas spöttischem ›Ja, Mamà‹. Sie hatte ihren Slip ausgezogen und ließ ihn um den Finger kreisen. Wie hübsch sie war. Er stürzte sich auf sie, sie rollten über den Boden, er gab vor, der Boden sei viel zu hart, um es sich bequem zu machen, und so gingen sie ins Bett, wie es schon seit Stunden abzusehen gewesen war. Aber nicht etwa der harte Fußboden hatte ihn gestört, sondern der geheimnisvolle Blick der jungen, schlanken Elisenda auf dem Bild über dem Kamin. Sie entschieden sich für das majestätische Bett von Mamà. Das Zimmer war geheizt, und die Wände waren zwar mit den Geistern von acht Generationen von Vilabrús tapeziert, aber wenigstens gab es keine Bilder, die ihn sich unbehaglich fühlen ließen und daran erinnerten, daß seine Mutter gerade ihre fromme Phase hatte und sich mit Bischöfen und Pfarrern herumtrieb und nicht aufhörte, ständig von Heiligen und Seligen zu reden. Und wenn sie mich beim Vögeln mit Lisa Monells sehen könnte, würde sie mir was von Sünde und Reue erzählen und vom Vorsatz zur Besserung. Und wenn Hochwürden August mich sehen könnte, der Arme, würde er auf der Stelle tot umfallen.
12
Der dritte Mann schwenkte den linken Arm. Er wußte, daß die anderen ihn nur sehen konnten, wenn er sich gegen den Schnee abzeichnete, und darum hatte er sich mitten auf die verschneite Wiese gestellt. Aber er wußte auch, daß er damit nicht nur für seine Kameraden, sondern auch für einen möglichen Feind sichtbar war. Eine Kugel riß ihm das halbe Gesicht weg, noch bevor er den Arm wieder senken konnte. Am sechsten Dezember 1943 um fünf Uhr nachmittags färbte sich der Schnee der vorweihnachtlichen Landschaft rot vom Blut des ersten Maquisards, der im Vall d’Isil im Kampf gegen die Faschisten gefallen war. Und seine Kameraden sagten nicht Amen, sondern fluchten unterdrückt, weil Oberst Nerval ihnen versichert hatte, bis südlich von Isavarre würden sie nicht auf Wachposten stoßen. Der zweite Mann gab Leutnant Marcó ein Zeichen und verschwand in der Dunkelheit. Der Leutnant verstand, daß er nachsehen wollte, wer sie aufhielt. Er sah seine Männer an, etwa dreißig unrasierte Freiwillige mit entschlossenem Blick und ohne jegliches Selbstmitleid. Einen Augenblick lang war er stolz, diese Schar zu befehligen, aber er hatte auch Angst und dachte voller Schmerz an Paco, den Mann, dessen Blut den Schnee auf der anderen Seite der Landstraße dunkel färbte; doch da raunte ihm der zweite Mann schon zu: »Der Weg ist frei, ich habe sie erledigt, es waren nur zwei Soldaten.«
Die drei Spähtrupps überquerten den Fluß, vorbei an dem Wachposten, der laut dem verdammten Nerval gar nicht existierte und nun aus zwei toten Soldaten bestand, die zwei Mauser, eine Munitionskiste und eine Proviantdose voller gefrorener Kichererbsen dabeihatten. Zwei Maquisards konfiszierten die Gewehre, ein dritter die Munitionskiste. Siearbeiteten geräuschlos, beinahe mechanisch, und keiner von ihnen würdigte die beiden jungen Soldaten mit den durchschnittenen Kehlen eines Blickes, denn sie mußten den ersten Mann erreichen, der auf sie wartete und sicherlich schon eiskalte Füße hatte.
»Was war das für ein Schuß?« fragte er, während er sich warmstampfte.
»Keine hundert Meter vor dir waren
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