Die Strafe - The Memory Collector
ist, und wäre ihr nachgelaufen. Kanan hat das nicht getan, weil er es für ausgeschlossen hielt, dass Misty gekommen war.«
»Worauf willst du hinaus?«
Obwohl es im Auto warm war, kroch ihr wieder die Kälte über die Haut. »Gottverdammt. Er hat es mir selbst gesagt. Klar und deutlich, und ich hab nichts begriffen. ›Ich hol sie mir‹ - das waren seine Worte.«
»Ja, die Leute, die ihn vergiftet haben.«
»Nein.« Plötzlich hatte Jo wieder das Leid in Kanans Gesicht vor Augen; die Entschlossenheit, die Verzweiflung. »›Ich hol sie mir.‹ Damit hat er nicht Rache an irgendwelchen Schurken gemeint, sondern dass er seine Familie holen will. Dass er sie zurückholen will.«
»Seth und Misty …«
»Sie sind entführt worden. Jemand hält sie als Geiseln fest.«
Misty Kanan drückte das Ohr an die verschlossene Zimmertür. Durch das billige Laminat vernahm sie leise Echos aus dem Haus.
Der Fernseher. Ein loser Rolladen, der im Wind klapperte. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich voll aufs Lauschen. Eine halbe Minute lang blieb sie absolut reglos und unterdrückte alle Hoffnungen und Ängste.
Kein Laut von den Männern.
Normalerweise trampelten Vance und Murdock durch
die Zimmer, redeten, betätigten die Toilettenspülung, warfen Flaschen in den Müll. Doch seit einer Stunde herrschte Stille im ganzen Haus.
Natürlich konnten sie jederzeit zurückkehren. Es war ein Risiko. Sie atmete tief durch: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Hastig streifte sie sich den Pullover über den Kopf.
Als die Männer sie verschleppt und in dieser Hütte abgeladen hatten, hatten sie ihr alles abgenommen - Handy, Halskette, Ehering. Sie hatten sie gefilzt, sie am ganzen Körper abgetatscht. Und dann hatten sie sie in dieses Zimmer gesperrt, in dem es nichts gab außer vier Wänden und einer fleckigen Matratze.
Ja, die Mistkerle hatten fast alles einkassiert. Nur die Wäsche hatten sie ihr gelassen.
Sie zog den Bügeldraht aus ihrem BH. Im Verlauf des letzten Tages hatte sie heimlich ein Loch in die Versteppung gebissen und den Draht vom Stoff gelöst. Das Metall war dünn, aber fest. Hoffentlich stabil genug, um es als Schraubenzieher und zum Knacken eines Schlosses zu verwenden.
Misty hielt sich für eine gute Mutter und eine kompetente Schulschwester, der es Spaß machte, zappeligen Erstklässlern aus einem Kinderbuch von Dr. Seuss vorzulesen, während sie schon ungeduldig darauf warteten, von ihren Eltern abgeholt zu werden. Aber sie war auch die Frau eines Soldaten, der bei einer Spezialeinheit gedient hatte. Sie hatte ihm gut zugehört, als er erklärte: »Man kann nie wissen, ob man so was nicht mal braucht, um sich aus einer heiklen Situation zu befreien.«
Jetzt brauchte sie es.
Sie war wegen Ians Arbeit entführt worden. Sie wollte unbedingt entkommen - für ihn, für Seth. Seth machte sich bestimmt fuchtbare Sorgen, und Ian setzte sicher Himmel und Hölle in Bewegung, um sie zu finden. Aber sie konnte jetzt nicht mehr darauf warten, dass er die Tür eintrat und sie rettete.
Nimm, was du zur Hand hast , würde Ian sagen. Mach ein Werkzeug daraus oder eine Waffe.
Im spärlichen Licht ging sie an die Arbeit. Behutsam bog sie den Draht um. Dann ließ sie das flach zusammengedrückte Ende in den Schlitz einer Schraube im Türbeschlag gleiten. Die Tür war alt und billig. Wenn sie den Beschlag abschraubte und das Innenleben des Schlosses vor sich hatte, konnte sie das Drahtstück vielleicht als Dietrich verwenden.
Aber sie musste sich beeilen. Die Entführer trafen schließlich schon Anstalten, sie erneut abzuladen - und diesmal nicht in einem Zimmer. Sie gaben ihr nichts mehr zu essen. Und das konnte nur bedeuten, dass sie sich bereitmachten, sie an einen Ort zu bringen, der günstig war, um Leichen zu verscharren.
»Geiseln?« Tangs Skepsis war unüberhörbar. »Beckett, bist du auf Acid?«
»Nein, und ich hab auch keine Beweise. Aber ich verwette meinen Kopf darauf, Amy.« Sie schluckte. »Wir müssen von dieser Annahme ausgehen, was anderes können wir uns gar nicht leisten.«
Auf dem Beifahrersitz des Mercedes, der sich durch den
weißen Dunst auf der Fulton Street schob, schloss Jo die Augen, um sich zu erinnern. Der Krankenhausaufzug. Kanan, der sie an die Wand presste. Die schimmernde Klinge vor ihrem Gesicht.
»Er hat gefragt, für wen ich arbeite. Und: ›Haben Sie es?‹«
»Es?« Amy klang auf einmal hellwach.
Neben ihr atmete Shepard zischend ein.
»Ian hat gesagt: ›Ich
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