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Die strahlenden Hände

Die strahlenden Hände

Titel: Die strahlenden Hände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hat sich plötzlich so vieles verändert – auch Menschen, von denen man glaubte, sie jahrzehntelang zu kennen. Es ist wirklich erschütternd: Das Leben besteht nur aus Täuschungen. Was wir als Wahrheiten hingenommen hatten, erweist sich als Blendwerk und fauler Zauber. Ihr seht mich jetzt ziemlich dämlich an … ich bin nur gekommen, um euch zu sagen: Ich erwarte nicht von euch, daß ihr euch in den nächsten Monaten als meine Freunde bekennt! Tapferkeit und Kameradschaft sind mit meiner Generation verblutet. Benehmt euch ruhig so, wie es die moderne Gesellschaft offenbar von jedem fordert. Seid Egoisten und denkt nur an den eigenen Vorteil. Ich nehme es euch nicht übel!«
    In jeder Klasse, die er nach diesem Ausbruch bitterster Enttäuschung verließ, blieb ein betroffener oder beleidigter Kollege zurück. In der Pause drängte alles ins Lehrerzimmer. »Was mit Stefan los ist?« entgegnete Rektor Hupp mit belegter Stimme auf die vielen Fragen. »Er dreht durch! Er kann sich nicht anpassen. Aber das konnte er nie, wir haben es nur nicht gemerkt, weil es bei uns in der Schule eine solche außerordentliche Situation wie diesen Wunderheiler-Firlefanz bisher noch nicht gab. Wir werden auf Stefan eine Zeitlang verzichten müssen …«
    Noch am selben Tag richtete Doerinck an Schulrat Hollenbock eine schriftliche Beschwerde und reichte beim Verwaltungsgericht in Münster eine Klage ein.
    »Für solche Sachen kenne ich den besten Anwalt!« dröhnte am Abend Dr. Roemer, als Doerinck von den Geschehnissen des Tages berichtete. »Den rufen wir sofort an. Dr. Willy Fernhorst. Eine Kanone, sage ich dir. Wenn Fernhorst bei Gericht auftritt, schlackern dem Gegner die Hosen. Alle, die mit ihm zu tun hatten, würden sofort nach Lourdes pilgern und hundert Kerzen stiften, wenn sie dadurch erreichen könnten, daß Fernhorst von der Bildfläche verschwindet. Aber der Kerl ist kerngesund und hat einen Chauffeur. Wenig Chancen also, daß ihm etwas passiert. Stefan, den rufen wir an!«
    Am Abend kehrten Marius Herbert und Corinna noch einmal zum Zelt zurück. Auf dem Hintersitz saß Molly, das herrliche Scheusal von Hund, und knurrte leise, als sie an einem parkenden Wagen vorbeifuhren. Ein grünes Auto mit holländischer Nummer. Sie achteten nicht weiter darauf, denn Molly knurrte öfter, wenn sie etwas sah, was ihr nicht gefiel, sei's ein Vogel oder eine Katze oder auch nur ein Blatt, das der Wind vor sich hertrieb. Auch als der grüne Wagen sich in Bewegung setzte und ihnen folgte, schenkten sie ihm keine Aufmerksamkeit. Warum auch? In Hellenbrand fuhren viele Autos herum.
    Marikje – es handelte sich um ihren Wagen – parkte etwas abseits vom Zelt und ging, geschützt durch die Dunkelheit, die letzte Strecke zu Fuß. Gegenüber der Tür stellte sie sich hinter einen dicken Baum, wickelte mehrere Gegenstände aus einem Schal und begann die Teile zusammenzusetzen. Es waren einzelne Bambusstücke, die man ineinanderstecken konnte und die dann ein etwa ein Meter langes Rohr ergaben. Als es fertig war, setzte es Marikje probeweise an die Lippen. Tief holte sie Atem und stieß die Luft geballt wieder aus. In dem Rohr klang es hohl, wie ein leiser Schuß. Zufrieden nickte sie, griff dann in eine Umhängetasche und entnahm ihr ganz vorsichtig einen etwa zwanzig Zentimeter langen, nadelspitzen Pfeil, in dessen gespaltenem hinterem Ende eine eingeklemmte schmale rote Feder dazu bestimmt war, während des Fluges das Gleichgewicht des Pfeils zu halten.
    Mit größter Vorsicht steckte Marikje den Pfeil, dessen Spitze in ein hochwirksames Gift getaucht worden war, in das Blasrohr und klemmte es dann unter die Achsel. Wie lange ist das her, dachte sie, diese Zeit in den Urwäldern Borneos und Celebes? Damals war sie ein junges Mädchen von siebzehn Jahren und wurde auf der Pflanzung ihres Onkels Johan van Middelhuis erzogen. Ihre Eltern waren an Gelbfieber gestorben, der einzige Bruder war beim Baden im Fluß von einem Krokodil angefallen und zerrissen worden. Damals lernte sie es auch, genau wie die Eingeborenen Borneos, in den Wäldern mit Blasrohr und Giftpfeil zu jagen und war jedesmal sehr stolz, wenn sie auf diese Weise einen Affen erlegte oder ein Wildschwein. Aber erst als sie die Fähigkeit erworben hatte, mit dem Blasrohr sogar einen Paradiesvogel hoch oben im Baum zu treffen, war Jan van Middelhuis mit seiner Nichte zufrieden.
    Achtunddreißig Jahre war das her – welche eine Zeit! Und sie hatte die Kunst des Blasrohrjagens nie

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