Die strahlenden Hände
rufe nur schnell an, daß wir kommen.«
Hambach ging zum Telefon und sprach mit Stefan Doerinck. Unterdessen stand Willbreit wieder am Fenster, die Aufnahme im hellen Sonnenlicht, und studierte sie. Nichts! Nur frische Vernarbungen. Es war unglaublich. Nein: unmöglich!
Roemer trat hinter ihn und starrte ebenfalls auf das Foto. »Es war einmal ein Mann, der pinkelte sich in die Schuhe und sagte erstaunt: ›Nanu, es regnet ja …‹«, flüsterte er Willbreit in den Nacken. »So fühlst du dich, was?«
»Das hier kann nicht sein. Das stellt alles auf den Kopf. Das widerspricht jedem medizinischen Gesetz.«
»Und könnte nicht möglich sein?«
»Nein! Das nicht! Nicht mit den bloßen Händen. Ich weigere mich, das hinzunehmen.« Willbreit drehte sich um. Hambach kam vom Telefon.
»Sie erwarten uns. Und Ljudmila ist bereit, noch eine Untersuchung durch Sie über sich ergehen zu lassen.«
Das war eine rhetorische Beleidigung. Willbreit schluckte sie, sehr zum Erstaunen Roemers, gab Hambach das Röntgenbild zurück und schwieg.
»Dann laßt uns keine Zeit verlieren«, sagte Roemer fett. »Noch ein Körnchen, und dann zur Streichelmadam. Thomas, einen Doppelten?«
»Nein! Nichts!«
Willbreit riß die Tür auf, ging hinaus in die Diele und wartete.
Roemer hielt Hambach am Ärmel fest. »Dem haben Sie jetzt den Glauben an die Medizin genommen«, sagte er leise. »Ist wirklich kein Trick dabei? Ganz privat als Jurist: Man kann das als Betrug auslegen.«
»Es ist die volle Wahrheit«, entgegnete Hambach ernst. »Ich begreife sie ja auch nicht!«
Zehn Minuten später hielten sie vor dem Lehrerhaus. Doerinck wartete bereits am Vorgartenzaun und sah auf den ersten Blick, daß Willbreit als Feind gekommen war. Der dicke Riese Roemer dagegen lachte ihn freundschaftlich an und stellte sich vor. Sie betraten das Haus und wurden von Corinna begrüßt. Roemer verkniff sich ein »Donnerwetter!« und küßte ihr die Hand. Dann hielt er die Hand fest, strahlte Corinna an und sagte dröhnend:
»Ich muß ein mangelhaftes Medium sein; ich spüre keine Hitze bis in die Zehen.«
Corinna musterte Roemer ein paar Sekunden schweigend. Ihre schwarzen Augen wirkten wie aus Glas. Ganz langsam zog sie ihre Hand aus Roemers Griff und legte sie auf den Rücken. Welch ein Weib! dachte Roemer. Herrjemine, herrjemine, da geht der Schlaffste in die Höh'.
»Sie sind ein Freund von Professor Willbreit?« fragte sie plötzlich.
Roemer nickte enthusiastisch. »Ja! Daß er mich hierher mitgenommen hat, werde ich ihm bis zum Lebensende nicht vergessen!«
»Wie kurz.« Corinnas Blick blieb an seinen Augen hängen, und plötzlich spürte Roemer, wie eine fremde Kraft in ihn hineinfloß. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihm aus. »Warum hat Ihnen Ihr Freund nicht gesagt, daß Sie nur noch ein Jahr zu leben haben …?«
4
Ein Philosoph – also ein Denker, der in der Theorie ein anderes Leben führt als das, welches das Schicksal ihm zuwies – hat einmal gesagt: »Ein Mann ist ein Mann, wenn er auf seinen Abschied von der Welt einen Trinkspruch ausbringt.« Das hört sich markig an, heldisch und strahlend wie ein in der Sonne blitzendes Schwert.
So betrachtet, war Erasmus Roemer weder ein Held noch auch nur ein Mann. Nach den Worten, die Corinna so ruhig und ohne Erregung ausgesprochen hatte, blieb ihm zunächst ein paar Sekunden die Luft weg. Sein Blick, hilflos wie die bettelnden Augen eines Kindes, flog zu Willbreit und irrte weiter zu Dr. Hambach. Erst als von beiden keine Regung kam, da sie im Augenblick genauso betroffen waren und sprachlos, sagte er mit hohler Stimme:
»Das … das ist doch Unsinn … Natürlich ist das Unsinn. O Himmel, Sie haben mich ganz schön ans Knie getreten, Fräulein Doerinck!« Er schluckte mehrmals, holte schnaufend Luft, aber er kontrollierte sich dabei, lauschte nach innen und fand alles so wie immer, normal und ohne Beanstandung. Die Lunge funktionierte, das Herz klopfte stark, das Hirn arbeitete exakt und signalisierte beim Anblick Corinnas: Wer mit der ins Kissen geht, am Morgen um Erbarmen fleht.
Aber immer wieder schob sich der Gedanke dazwischen: Nur noch ein Jahr zu leben …
Plötzlich überfiel ihn eine lähmende Angst. Sein Blick wanderte erneut zu Willbreit, der mit hochrotem Kopf seine Aktentasche gegen die Beine schlug.
»Thomas …«, stotterte Roemer und gab sich keine Mühe, das Zittern in seiner Stimme zu festigen. »Thomas …«
»Ich habe nach all dem, was ich nun weiß, manches
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