Die Straße nach Eden - The Other Eden
führen. Beides waren Produkte einer stark verzerrten Realität. Ich weiß weder, ob unsere Liebe in einem ganz gewöhnlichen alltäglichen Leben eine Überlebenschance gehabt hätte, noch, ob wir überhaupt noch tiefe, wahre Liebe füreinander empfanden. An jenem Morgen war ich jedoch sowohl von dem einen als auch von dem anderen fest überzeugt.
Der letzte Tag, den ich mit Alexander verlebte, verlief harmonischer als die meisten anderen Tage dieses Sommers. Wir schienen zu einem stillschweigenden Übereinkommen gelangt zu sein. Ich brachte nicht mehr die Energie auf, über die Enthüllungen des gestrigen Abends zu sprechen, obwohl sie mich bis ins Innerste aufgewühlt hatten, und er verspürte zweifellos nicht die geringste Lust dazu. Nicht zuletzt deshalb habe ich mich später oft gefragt, ob er damals schon ahnte, was uns noch bevorstand.
Doch von dem dramatischen Höhepunkt der Ereignisse trennten uns noch viele Stunden, die wir mit kleinen, in der letzten Zeit fast in Vergessenheit geratenen Vergnügungen ausfüllten. Am Morgen spielten wir mit Tascha im seichten Wasser des Sees, danach lagen wir im Schatten einer hohen Zypresse im warmen Sand, während die Sonne ihren Zenit erreichte. Am Nachmittag pflückten wir im Obstgarten neben den Ställen Pfirsiche, dann steckten wir Tascha für eine Stunde ins Bett. Während sie schlief, spielte mir Alexander einige seiner eigenen Kompositionen vor, und ich hörte aus jeder Note eine inständige Bitte um Verzeihung heraus. Noch war ich nicht dazu bereit, sie ihm zu gewähren, aber ich spürte, wie ein Teil der Eisschicht, die sich um mein Herz gelegt hatte, zu schmelzen begann.
Von den Fahrkarten nach Boston, die ich reserviert hatte, erzählte ich ihm nichts; ich wollte nicht, dass irgendetwas die friedliche Schönheit dieses Tages beeinträchtigte. So blieb es Mary überlassen, uns an die dunklen Wolken zu erinnern, die unser Leben überschatteten. Obwohl sie keinerlei Einwände erhoben hatte, als wir am Morgen zu unserem Ausflug aufgebrochen waren, lag ein sorgenvoller Ausdruck auf ihrem Gesicht, als wir uns an diesem Abend wieder im Herrenhaus einfanden. Während des Essens verhielt sie sich ungewöhnlich schweigsam, erst als ich aufstand, um mit Alexander zum Cottage zurückzugehen, sagte sie: »Eleanor, es wäre mir lieber, wenn du heute Nacht hierbleiben würdest.«
»Bitte? Warum denn?«
»Du musst doch todmüde sein.« Die Worte klangen gezwungen, fast so, als habe jemand sie ihr in den Mund gelegt.
Ich sah Alexander an. Seine Lippen hatten sich zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Eleanor ist wieder vollkommen gesund«, widersprach er.
»Gerade deshalb möchte ich vermeiden, dass sie wieder einen Rückfall erleidet.«
Die beiden fochten ein stummes Blickduell aus. Es war Alexander, der schließlich nachgab.
»Vielleicht hörst du doch besser auf Mary«, meinte er, an mich gewandt.
»Aber…«
»Es ist ja nur diese eine Nacht.« Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Morgen früh komme ich wieder. Schlaf gut, Eleanor.« Er nickte Mary knapp zu und verließ dann den Raum.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er sich außer Hörweite befand, fuhr ich zu Mary herum. »Traust du ihm jetzt auch nicht mehr?«
Sie verzog kummervoll das Gesicht. »Natürlich traue ich ihm. Es ist nur so … Dr. Dunham hat gesagt…«
»Ich habe genau gehört, was Dr. Dunham gesagt hat! Ich kann nur nicht fassen, dass du ihm tatsächlich Glauben zu schenken scheinst!«
»Ich leugne ja gar nicht, dass es dir scheinbar schon viel besser geht, Eleanor…«
»Ich bin nicht irrsinnig wie meine Großmutter, falls du das meinst. Und ich bezweifle allmählich, dass sie wirklich an einer Geistesstörung gelitten hat.«
»Was soll das heißen?«
»Dass sie vielleicht irgendetwas wusste, was sie furchtbar gequält hat - etwas, das ihr niemals jemand geglaubt hätte.« Mary blickte zu mir auf, sagte aber nichts, also fragte ich: »Wer hat dich eigentlich an Dr. Dunham verwiesen?«
»Wie bitte?« Jetzt schwang echte Furcht in ihrer Stimme mit.
»Es war Dorian, nicht wahr?«
»Ich weiß, wie du über ihn denkst, aber er wollte doch nur helfen.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das spielt jetzt keine Rolle mehr, Mary. Ich habe für uns Fahrkarten nach Boston reserviert. Kommst du mit?«
»Ich dachte…«, begann sie und brach dann ab. Sie konnte mir nicht in die Augen sehen.
»Ich habe meine Meinung geändert. Ich möchte nicht länger
Weitere Kostenlose Bücher