Die Strasse ohne Ende
den hochhackigen Schuhen und die helle Eidechsledertasche, die sie in der rechten Hand hin- und herpendeln ließ.
So etwas wie ein Gewissen regte sich in ihm. Er war einen Augenblick versucht, das Fenster aufzureißen und ihr nachzurufen: Bleiben Sie, Fräulein Sievert! Geben Sie alle Papiere zurück, oder besser – verbrennen Sie sie! Ich bin ja gar kein Theateragent, ich bin … ich bin … Mein Gott, wie soll man das nennen? Ich verkaufe Sie! Ja, verkauft werden Sie. In Algier werden Sie wie eine Ware ausgeladen und von dem Käufer übernommen werden. Von Omar Ben Slimane! Einem schmierigen, dreckigen, widerlichen Araber, der keine Achtung vor dem Menschen hat! Er wird Sie einfach aufladen und wegfahren in eine Oase, wo Sie unter den Scheiks verteilt werden. Alle Mädchen, nicht Sie allein, Fräulein Sievert! Wenn Sie ganz großes Glück haben, kauft Sie ein Scheik für seinen Harem; geht es Ihnen schlecht, werden Sie in die verfallenen Tanzhäuser der Oasen kommen und müssen jeden Araber, Neger oder Berber unterhalten, der zweihundert oder dreihundert Francs auf den Tisch legt. Und dafür wollten Sie mir danken?
Er trat vom Fenster zurück und zündete sich mit bebenden Fingern eine Zigarette an. Sein Gesicht war bleich und eingefallen.
Zweitausend Mark bekomme ich für jedes Mädchen. Das sind sechsundzwanzigtausend Mark für dreizehn Mädchen, die nächste Woche abgehen! Ein gutes Geschäft mit weißem Fleisch! Wenn man das Leben nur in Zahlen auffaßt, ist Reue ein großer Luxus.
Er blies den Rauch gegen die Decke und zog seinen Trenchcoat an. Es drängte ihn an die Luft, in den sommerlichen, warmen Abend. Er mußte Menschen sehen, um zu vergessen.
Für Hilde Sievert verflogen die Tage viel zu schnell. Als sie von Pertussi in einem Brief mit einem feudalen Kopf die Nachricht erhielt, daß sie aus Berlin hinausgeflogen würde und sich auf dem Flugplatz Tempelhof reisefertig einzufinden habe, wurde sie völlig kopflos und saß mit verwuschelten Haaren in ihrer Mansarde auf dem Bett.
»Ich habe doch nichts fertig!« stöhnte sie und überblickte den Wirrwarr von Kleidern, Schuhen, Wäsche und all den Dingen, die man auf eine Reise mitnimmt. »Die Hälfte vergißt man ja doch.« Und dann packte sie ein, packte wieder aus, rief den Schriftsteller von nebenan zu Hilfe und ließ sich beraten, was man alles mitnimmt nach Nordafrika. Wenn auch diese Belehrungen rein theoretischer Natur waren, so halfen sie doch so viel, daß sich Hilde an ihren Stapel Afrikabücher erinnerte und in einer Nacht die Vorbereitungen beendete.
Noch einen Tag in Berlin!
Etwas krampfte ihr das Herz zusammen. War es Angst? Oder war es schon das Heimweh bei dem Gedanken, monatelang die Heimat nicht mehr zu sehen? Oder war es das Fernweh, das sie trieb, die Ungeduld, diesen einen Tag noch verleben zu müssen, ehe der silberne Vogel donnernd sich vom Rollfeld erhob und sie über das grüne Land nach Nordwesten trug?
Sie ging an diesem Vormittag noch einmal im Hause herum. Frau Brehmge hatte rötliche Augen und schloß sie in ihre vollen Arme. »Mein Kind«, sagte sie mit erstickter Stimme. »So allein nach Afrika … Nein, das täte ich nicht. Bleiben Sie hier, ich habe mich so an Sie gewöhnt.«
Auch der Bankkassierer Wuttke, der seit drei Tagen einen erbitterten Kampf gegen die Lehrerswitwe führte, weil drei der siamesischen Katzen wieder an seinem Frühstück auf dem Balkon geknabbert hatten, zog sein Gesicht in bedenkliche Falten.
»Die Jugend wagt noch vieles«, sagte er würdig. »Aber wir Alten haben uns das Leben schon um die Nase wehen lassen. Seien Sie vorsichtig, mein Kind, daß Ihnen in Afrika nichts geschieht. Dort schützt Sie niemand als Sie sich selbst.«
Hilde verabschiedete sich freundlich und stieg weiter die Treppen hinauf. Auf dem Flur der zweiten Etage hörte sie wieder den Tenor üben. Er war etwas heiser, und es klang ziemlich blechern, als er den Freischütz sang. Trotzdem blieb sie stehen und lauschte – es war alles so alltäglich, daß es schwer sein würde, dies zu vermissen. Frau Brehmge putzte mit einem Mop die gebohnerten Treppen und unterhielt sich laut mit der Lehrerswitwe, die ihren Standpunkt über die rohe Natur des Herrn Wuttke kundgab. Herr Pfeil kam die Treppe heruntergerannt, unter dem Arm einen Stapel Manuskripte. Der morgendliche Gang zu den Redaktionen begann. Er drückte Hilde beide Daumen und kniff ein Auge zu. »Nochmals Hals- und Beinbruch, Fräulein Hilde. Wenn Sie zurückkommen,
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