Die Strasse ohne Ende
blickte über die weißleuchtende Oase. »Glauben Sie, daß man durch eine einzige Nacht mit einem Menschen, einem fremden Menschen, so tief verbunden sein kann wie mit seinem eigenen Ich?«
»Ja, Doktor.«
»Es ist merkwürdig.« Dr. Sievert schüttelte den Kopf. »Ich werde mich innerlich von diesem Mädchen nie mehr trennen können. Und deshalb werde ich sie wiederfinden.« Er drehte sich um und sah zu der Ruine hinüber. »Ein Kinderlied sang sie, das einmal meine Mutter für uns sang. Es war in diesem Augenblick, als sei die Welt zurückgedreht worden. Es war wundervoll, ergreifend und erschütternd. Denn«, er sah den Leutnant groß an, »es war wirklich die Stimme meiner Mutter. Begreifen Sie das? Es war ihre Stimme!« Er wandte sich ab und sah wieder über die weiße Oase. »Ich kenne viele Geheimnisse der Wüste«, sagte er leise. »Aber das größte Geheimnis kommt immer vom Menschen.«
Still verließ der Leutnant Dr. Sievert. Als er an den Häusern zurückblickte, lehnte der Deutsche noch immer an der Mauer und schaute über die Oase hin.
Sein Gesicht lag im Schatten der Palmen, aber man ahnte, daß es feucht war.
Dritter Teil
Auf dem Marktplatz von Biskra hockte im Schatten der Hauswand eines Krämerladens ein blinder Bettler, einer der Tausende von Bettlern, wie sie die Oasen und Städte Nordafrikas bevölkern und eine Plage sind wie die Heuschrecken. Man beachtete ihn nicht; man ging an ihm vorüber, als sei er ein Stück der zerbröckelnden Mauer, an der er saß. Basthändler und Steinsalzverkäufer, Limonadenausschreier, Marktfrauen, Fischhändler, Schuster, Weber, Bauern, Gaukler, Musikanten, Diebe, europäische Touristen, farbige Polizisten und Legionäre gingen an ihm vorbei und hörten nicht auf den monotonen Singsang seiner Bettelstimme. Er saß den ganzen Tag da, eine handgeschnitzte hölzerne Schale mit wenigen Francs in der Hand, und wartete auf die Gnade Allahs, ob sie ihm am Abend wieder einen trockenen Mehlfladen als einziges Essen erlaubte.
Auch Dr. Handrick war ein paarmal an dem Bettler vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken. Seit fast einer Woche lebte er jetzt in Biskra und suchte für seine Untersuchungsreihen Material zu bekommen. Was Parthou ihm in Bou Saâda gesagt hatte, wurde in Biskra noch übertroffen. Er war der Feind der Araber, ein Ungläubiger, der einen Allah geweihten Körper berühren wollte. Wo er mit seinem Impfkasten auftauchte, verließ man fluchtartig die Häuser, rannte über die flachen, miteinander verbundenen Dächer und versteckte sich in dem undurchdringlichen Wirrwarr der Hütten und überdeckten Tunnelstraßen. Es blieb dann Dr. Handrick nichts übrig, als die von der Ruhr befallenen Häuser mit Hilfe von zwei Militärsanitätern gründlich zu desinfizieren. Aber was nutzte das, wenn die nach zwei Tagen vorsichtig zurückkehrende Familie sich um die Ansteckung nicht kümmerte und die Wäsche weiterhin tagelang herumliegen ließ, ehe sie in einer Seitengasse in einem großen, gemauerten Brunnen einfach ausgeschwenkt und dann in der Sonne getrocknet wurde.
An diesem Tag geschah etwas Merkwürdiges. Der Bettler saß nach dem Mittagsgebet still an seiner Hauswand. Die hölzerne Schale in seiner Hand zitterte, der Kopf schwankte hin und her, als höre er im Inneren eine Melodie, nach der er sich rhythmisch bewegte. Dann, nach einer Stunde, fiel der Bettler um. Er kippte einfach zur Seite in den Straßenstaub und lag dort wie ein hingeworfenes Bündel alter Kleider. Er fiel einem farbigen Polizisten auf, der seine Runde über den belebten Markt machte.
Er trat an den Liegenden heran und stieß ihn mit der Fußspitze in die Seite. »He, du Hundesohn«, sagte er schroff, »steh auf! Du liegst in der Fahrbahn. Hörst du nicht? Steh auf, du dreckige Spinne, sonst hagelt's Schläge!«
Der Bettler rührte sich nicht. Er lag da, verkrümmt, die Augen geschlossen, mit fahler Haut, die Lippen verkniffen. Er schien ohne Besinnung zu sein. Nur sein Körper zuckte ab und zu.
Der farbige Polizist stand eine Weile vor dem Haufen Mensch und überlegte. Ihn einfach liegen lassen? Oder ihn mit einem Fußtritt weiter an die Mauer befördern?
Er stand noch vor dem Bettler, als Dr. Handrick über den Markt kam. Er trat, als er den Bettler liegen sah, heran und beugte sich über ihn. »Was ist mit ihm?« fragte er dabei.
»Der räudige Hund ist ohne Besinnung«, meinte der Polizist. »Man sollte dieses schmutzige Schwein einfach in die Ecke werfen.«
Dr. Handrick hockte
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