Die Strudlhofstiege
Reise hinüber fiel in den November des Jahres dreiundzwanzig, und Editha blieb bis März, also die heißeste Zeit hindurch. Aber Enrique Scarlez wohnte in der Gegend der Recoleta und nicht allzuweit vom Wasser. Wenn sie im Bette und im Dunkeln lag, fühlte sie fast mehr als daß sie's hörte, wie laut und bewegt diese Stadt des Nachts war.
Sie hat seltsamerweise dort drüben (nach eigener Aussage) oft an Schlinger gedacht, weil ihr von ihm träumte: sie trat an ihre damalige Wiener Wohnung auf dem Rudolf-von-AltPlatz heran wie man an den Rand eines stillen Teiches tritt; aber der nach drei Seiten von Häusern abgeschlossene Platz war die Wohnung, sie befand sich nicht in einem Hause; der Platz war von Wasser erfüllt und hatte Grün am Rande, sehr frisches Grün und junge Bäume; zwischen zwei solchen stand sie; ihr gegenüber auf der anderen Seite ihr gewesener Mann. Sie sprachen nichts miteinander, sie riefen einander nichts zu, sie bewegten sich nicht; er trug einen dunklen Anzug, keinen Abend-Anzug, sondern einen solchen wie man ihn bei Thés dansants zu haben pflegte, mit gestreiften Hosen. In dem Traum war die Stille sehr stark. Sie war das Stärkste an diesem Traum. Er kehrte bei Editha Schlinger in den ersten Nächten zu Buenos Aires mehrmals wieder und stand in irgendeinem Zusammenhange mit den Fensterladen, den ›Persianas‹. Wenn hier, wie's nicht selten der Fall war, ein kräftiger ›Pampero‹ wehte, dann ergab das ein von Zeit zu Zeit wiederkehrendes klapperndes Geräusch, welches sie an ihre eheliche Wohnung zu Wien erinnerte. Von Schlinger wußte sie übrigens seit vielen Jahren nichts mehr. Bald nach den erwähnten Träumen übersiedelte Editha der Hitze wegen in ein Zimmer, wo ein Ventilator lief. Das Traumbild kehrte nicht wieder.
Zu einer Einheit der Person mit Mimi kam es in Buenos Aires keineswegs, obgleich Editha mit solchen Vorstellungen zu der Schwester und dem vor fünfzehn Jahren in München noch weniger als flüchtig gekannten Schwager hinübergefahren war. Man hatte übrigens nicht lange vor Edithas Ankunft Mimi am Blinddarm operiert.
Scarlez, der die gleiche Branche bearbeitete, nur in etwas größerem Stil, wie der Editha damals noch nicht so ganz geläufige Wedderkopp (immerhin, Melzern hatte sie seit dem September 1923 schon in diesem Zusammenhange in's Auge gefaßt und sie erzählte auch der Schwester von ihm) – Scarlez gefiel ihr also außerordentlich. Im ganzen: ein reiches Haus ohne Kinder. Durchaus also nach Editha Schlingers Geschmack. Der Zigarren-Großhändler war ein leiser, glatter Mann von anmutigem Körperbau und sehr regelmäßigem Antlitz, über dessen Augen rasch die Wimpern schatteten, lang und dun kel. Saß er im Sessel, war sein Blick fast immer gesenkt: dann sah man die Wimpern. Dieser Teil seines Gesichtes hätte einer schönen Frau eignen können. Aber der Mund war übermäßig breit, immer fest geschlossen.
Man sieht im ganzen: die Pastré-Kinder hatten's nun einmal mit dem Tabak. Und sie vertrugen auch einen starken.
Die Reise nach Südamerika ward freilich ohne Wissen der alten Eltern getan. Es erhielt der Rittmeister die Briefe der Alten (über die Münchener Adresse eines seiner Verwandten, welche angegeben worden war) wieder nach Wien gesandt, beantwortete sie (sofern er's nicht vergaß) mittels einer kleinen Schreibmaschine auf von Editha im voraus gezeichneten Blättern – zum Nachmachen einer Unterschrift besaß er kein Geschick – und ließ das Schreiben denselben Weg über München und jenen anderen Luftikus in der Familie wieder zurückgehen. Für den Fall irgendwelcher Alarm-Nachrichten war Kabel oder Funkspruch vereinbart, aber ansonst wünschte Editha ihre Ruhe zu haben. Jedoch kam nichts Dringendes, und es gab keinen Zwischenfall. Und so hat denn ein alter Husar einen großen Teil des Winters von 1923 auf 1924 hindurch jenen einsamen Eltern wirklich liebe Briefe geschrieben und ihnen plausibel zu machen versucht, warum ihr Kind immer so lange von ihnen fern bleibe. Mit der Zeit gewöhnte er sich daran und brachte manchen behaglichen Winterabend damit zu, seinen Alten zu schreiben, ja, er verspätete sich zuletzt gar nie mehr mit den Antworten. In diese kam mit der Zeit sogar ein warmer Gefühlston hinein. Klug, wie ein alter Husar im Grunde ja immer ist (ähnlich wie die Bootsleute), blickte er in seinen Episteln oft mit tiefer Bewegung, ja mit ehrlichem Schmerze auf den unglücklichen Verlauf seiner Ehe mit dem Sektions rat Doktor
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