Die Strudlhofstiege
verschmelzen. Aber hier wies Mimi unverzüglich die Gepflogenheiten mehr-weniger harmloser Jugendstreiche zurück, deren letzter, vor fünfzehn Jahren zu München, für sie nicht mehr harmlos, sondern entscheidend ausgefallen war, wenn auch glückhaft (es war bei einer solchen Gelegenheit, daß Editha im Badezimmer von Mimi auf die kürzlich gut überstandene Blinddarm-Operation und eine davon gebliebene sichtbare Narbe hingewiesen ward). Sie zeigte offene Abneigung gegen ihre Eltern und das größte Befremden bei der Vorstellung, jene wiederzusehen. Enrique schlug bei solchen Worten die langen Wimpern nieder. Es war an sich schon schwer begreiflich, daß Mimi durch fünfzehn Jahre noch nie dazu gelangt war, den Alten einmal einen Brief zu schreiben. Vielleicht hatte sie es früher wollen. Vielleicht hatte sie es immer mehr hinausgeschoben. Und eben darum, von irgendeinem Zeitpunkte an, wollte sie davon überhaupt nichts mehr hören. Ihr Mann für sein Teil erwog ernstlich, an ihrer Stelle mit dem unbekannten Schwiegervater die Verbindung herzustellen und die alten Leute mindestens wissen zu lassen, daß ihr zweites Kind lebe und daß es ihm wohl ergehe. Aber es war, als erriete Mimi des Enrique Gedanken, und eines Tages brach sie unvermutet gegen ihn vor und erklärte, sie würde ihn verlassen, wenn er es wagen sollte, die Bande der Familie hinter ihrem Rücken wieder zu knüpfen. »Neuerlich mich an diesen ganzen Verderb ketten?!« So wörtlich. Die Eheleute sprachen nur spanisch untereinander. Der Auftritt fand am Fenster von Mimis großem Salon statt (er wurde nur während der kühleren Jahreszeit benützt), einem Raume, dessen leichtgeschweifte Möbel und fast regenbogenfarbig bunte Stoffe die Empfindung weckten, als sei hier alles gelüpft wie eine Schwinge. Man sah gradaus auf's Wasser (der hier über vierzig Kilometer breite schmutzigbraune Rio de la Plata macht den Eindruck des Meeres und schließlich ist seine Mündung nichts anderes als ein Golf des Atlantik). Links, in der Weite, blieben Spitzchen von den Ausläufern des Palermo-Parkes sichtbar. Auf dem Wasser lagen hier nicht die großen Übersee-Dampfer wie beim Hafen und dem Riachuelo- Canal. Aber für Mimi genügte vielleicht der Anblick des Wassers überhaupt. »Wenn du schreibst«, sagte sie leiser, aber sehr eindringlich, »dann bin ich deine Frau – gewesen. Wenn du schreibst – werden sie verlangen, daß ich komme; und sie werden vielleicht sogar Editha herüberschicken. Alles beginnt wieder von vorne. Ich will es nicht!« Die letzten Worte rief sie mit starker Stimme. »Es wird nichts geschehen, mein angebeteter Liebling (mi adorada querida), wovon Du nicht willst, daß es geschehe«, sagte Enrique mit voll aufgeschlagenen Augenlidern. Diese Unterhaltung wurde im Frühsommer des Jahres
1923 geführt. Und sieben Monate später war Editha eingetroffen: allerdings ohne Wissen der Eltern. Man muß sagen, daß Scarlez eine merkwürdige Vorstellung von der Familie Pastré mit der Zeit hätte gewinnen müssen, wäre nicht alles das durch eine Art von Denken, wie er sie besaß – ein tiefstilles Gegeneinander-Führen des Widersprechenden und Unbegreiflichen, vor dem zurücktretenden eigenen Lebenshintergrunde, solange bis von dort rückwärts her der erste Faden des Verständnisses in's fremde Gewebe schoß – wäre nicht alles das durch sein Denken geradezu berichtigt worden. Aber zum ersten Mal bei jenem Auftritte am Fenster und in der Morgensonne, die von rechts her, von der Seite der Marine-Akademie, in die stilistisch so ungleichartigen Villenstraßen, in die Vorgärten und zwischen die Baumwipfel fiel, hielt er untrüglich – denn Mimi hatte in tiefer Erregung gesprochen – den Erweis in Händen, daß in seiner Gattin eine Art von Ablehnung gegen ihre treue Zwillings-Schwester lebte, was in so deutlicher Weise gar niemals bis jetzt bemerkbar gewesen.
Es blieb bei diesem einen Male. Als Editha wirklich gekommen war, brach alsbald die echteste Zärtlichkeit aus Mimi Scarlez hervor.
Man hat mit Editha von den beiden Scarlez den Eindruck einer glücklichen Ehe; und sie war's. Die Krisis, welche Eulenfeld während des Jahres 1921, das er in Buenos Aires verlebte, hineingebracht hat, sie kam nie zu einem offenen Ausbruch. Denn auch Enrique war damals eigene Wege gegangen, sehr zur rechten Zeit, kann man sagen: und wirklich lebten die beiden Gatten, jeder für sich in einer Art von leichter Betäubung, Monat nach Monat bei bestem Einvernehmen an
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