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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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nicht diskutieren: ob Puccini oder ein Zehnkreuzer-Roman, es bedeutete hier ein gleiches. Nur scheint uns, daß dem René bei alledem etwas mehr einfiel als ihr.
    Aber nun hieß es sich trennen. Vereinbart war man schon. Um die Ecke wohnte die Tante.

    Allein in der schmalen Gasse, wie in schwarzen Samt geworfen. Aus der geweiteten Brust drängt das Verlangen nach allen Seiten. In vereinzelten Fenstern schwaches Licht.
    Um die Ecke biegend sah Stangeler auf der erleuchteten Uhr an der großen Straßenkreuzung, daß es fünf Minuten nach halb acht war. Im Elternhause wurden die Mahlzeiten mit strenger Pünktlichkeit gehalten; wer im geringsten zu spät kam, setzte sich Unannehmlichkeiten aus. In anderen Dingen war man wohl weniger genau. Die moralische Schwerpunktslage des zivilisierten Menschen entspricht tatsächlich vollends seiner leiblichen: das heißt er legt Gewicht auf den Punkt, wo sein Gewicht schon liegt. So könnte man das Unentschiedene und dessen Resignation überhaupt definieren. Der Geist steht da nur als eine Art Hof um den Leib, nicht viel mehr als eine Evaporation, er gehört ganz den Psychologen, und seine scheinbaren Setzungen können außer jenen niemand interessieren. Und Stangeler sprang in die Straßenbahn. Damit änderte sich alles, so plötzlich, wie ein Raum, in welchem man das elektrische Licht einschaltet oder abdreht. Der Wagen glitt über seine wohlbekannte Route, deren Wendungen und rascher befahrene gerade Strecken man sozusagen in den Gefühlen des Körpers vorwegnahm.
    In dem Viertel von Stangelers Elternhause waren die Gassen um diese Zeit schon stiller, fast leer. Er gelangte über die breite Treppe von rotem Stein, vorüber an der Wohnung seiner Großmutter im Hochparterre, und sah dann, im Vorbeihuschen an dem ersten Stockwerk, das Vorzimmer hinter der Milchglastür beleuchtet; ein Blick durch's Guckloch zeigte ihm mehrere fremde Mäntel, die da von den Messinghaken an der grünen Holztäfelung herabhingen. Und jetzt erst fiel ihm ein, daß sein Vater heute die zweimal im Monat übliche Kartenpartie hielt, an welche sich ein Souper der Teilnehmer anzuschließen pflegte. Es hieß nun rasch fertig sein, wozu ihn auch im zweiten Stockwerk sogleich beim Eintritte die Zofe seiner Mutter ermahnte. René schloff in sein Zimmer und in einen dunklen Anzug, bürstete sich zurecht und glitt dann die interne Wendeltreppe hinab ins erste Stockwerk, eben als man dort unter mancherlei Räuspern und Reden würdevoll zu Tische schritt.

    Es waren drei Herren und zwei Damen als Gäste anwesend, alte Damen, für Renés Maßstab, der alle Erwachsenen als unübersteiglich anders, alt, schwer, autoritativ und sozusagen als über alle Zweifel erhaben empfand. Kritik war die vielleicht schwächste Seite seines Geistes, soweit davon bei ihm die Rede sein kann, und zur Frechheit gelangte er überhaupt nur im Zu stande der Verzweiflung, und dann war's eine erborgte. Er saß an der unteren Schmalseite des Tisches, in der Nähe des Büffets, wo das Serviermädchen stand, und ihm gerade gegenüber, durch die Länge der Tafel von ihm geschieden, sein Vater. Hinter dessen breiter Figur stand noch weitere Tiefe des Raums, nämlich ein zweiter Raum, ebenso groß wie das Speisezimmer, ebenso wie dieses durch einen schwebenden Kronleuchter von schwerer Bronze erhellt, an dessen Rund irisierende venezianische Milchglaskugeln hingen. Genau in der Mittelachse gab es am Ende jenes Raumes dort hinten einen hohen Wandspiegel. Wenn der alte Stangeler sich nach rechts neigte und zu Renés Mutter sprach, oder nach links, wo obenan der Primarius Doktor Hartknoch mit dem weißen Haarschopfe saß, dann konnte René für Augenblicke den breiten Rücken und den Hinterkopf seines Papas in jenem rückwärtigen Spiegel ausnehmen.
Aber der obere Teil der Tafel wurde von René kaum weiter beachtet. Erstens hatte er Hunger und aß dieses hervorragende Souper durch alle Gänge mit großem Genuß in sich hinein, was allein schon ihn voll beanspruchte und zugleich bei bester Laune hielt. Seine nächste Umgebung – links saß Asta, rechts Etelka – war vertraut und erforderte weiter keine Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Nach dem Fisch, der ihm heute besonders gut mundete und wovon er auch durch die Protektion des Serviermädchens nicht weniger als dreimal bekommen hatte, ist ihm damals zum ersten Mal eingefallen, daß er eigentlich Etelka in diskreter Weise wissen lassen müßte, ihr Brief sei ordnungsgemäß in der Akademie übergeben

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