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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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denen Herr von Stangeler um seinen Jüngsten sich auf seine Art zu kümmern pflegte.
    René hatte schon beim ersten Deklamieren des Primarius intensiv gelauscht, dergleichen entging ihm nie. Als er aber jetzt von seinem Vater apostrophiert wurde, und der ganze Tisch sich ihm zuwandte, fühlte er sich doch sehr gestört – dies ist der hier zuständige Ausdruck: nur gestört, jedoch gar nicht aus der Fassung gebracht; gestört etwa so, als würden unvermutet mehrere Menschen einen durchaus ihm allein zustehenden Raum, sein eigenstes Zimmer, betreten: aber in diesem eigensten Raum blieb doch er den Störenden, als auf seinem Boden stehend, überlegen. Eben als sein Vater ihn angesprochen hatte, war er mit dem Essen fertig geworden und hatte noch einen genießerischen Schluck Wein genommen: so war sein Mund frei, er brauchte jetzt nicht erst zu kauen und hinunter zu schlucken. Das war für ihn von Vorteil. Etwas moros und seine schiefen Augen halb schließend sah er seitwärts auf Damast, Silber und Glas der Tafel, wiederholte langsam und genau sprechend den lateinischen Text und schloß unmittelbar eine improvisierte Übersetzung an:

    Wein voll Blum' und Duft
    Gut dem Guten, bös' dem Schuft,
    der du uns den Schlaf versüß'st –
    Heiterkeit, oh sei gegrüßt!

    »Bravo!« bellte der Landesgerichtsrat Hunt überlaut.
    »Sehr gut!« rief Doktor Hartknoch, während er sein Glas hob und René zutrank.
    Der Vater Stangeler war jetzt geradezu verklärt, er lachte buchstäblich über's ganze Gesicht. Aber dann sagte er gleich, den Primarius leicht am Arm berührend, wie um noch ein Zuwarten zu erwirken für eine weitere Frage an den Gymnasiasten:
    »Hast du's gekannt? Was ist das? Woher sind die Verse?«
    »Ich hab's nicht gekannt«, sagte Stangeler, erstaunt über die von ihm ausgelöste Wirkung und ohne Verständnis dafür. »Aber klassisch wird es nicht sein.«
    »Und warum?« rief Doktor Hartknoch.
    »Wegen des Versmaßes, wegen der Sprache, aber vor allem wegen der Reime.«
    »Was ist es also, oder was kann es sein?« fragte der Vater. Indessen der Ton dieser Frage war doch schon ein grundgewandelter im Vergleiche zu früher, ja sie klang jetzt fast wie an einen Fachmann, einen Experten, eine Autorität gerichtet. Und Stangeler, in aller Unschuld, denn er ahnte nicht, daß sich jetzt vor allem rechter Hand, nämlich von Seiten Etelkas (der seine Erfolge und Triumphe zu lange dauerten) ein Gewitter zusammenzog, sagte: »Das weiß ich nicht. Ich hör' die Verse zum ersten Mal. Aber es wird mittelalterlich sein, ein Studentenlied, ein Vagantenlied, ein Lied fahrender Schüler, so kommt es mir vor.«
    »Vortreffliche Diagnose!« rief Doktor Hartknoch. »Stimmt, es ist ein Vagantenlied. Ein carmen buranum.«
    Und damit löste sich die Ordnung des Gespräches auf, trennte sich das Oberhaus wieder vom Unterhaus im entstehenden Stimmengewirre, das dort oben jetzt vor allem von der Frau von Stangeler in Gang gebracht wurde, welcher diese Solonummer ihres jüngsten Kindes ihrerseits schon weit mehr als zu lange gedauert hatte; auch besaß sie ein feines Organ dafür, daß René am Ende beinah' die Rolle eines auskunftgebenden Sachverständigen dem Vater gegenüber (wenn auch ganz unfreiwillig) gespielt hatte – das aber ging für seine Mutter gegen die Ordnung ihres Kosmos überhaupt. Sie redete also einfach dazwischen, bereits während der letzten Sätze, die René sprach, und die beiden anderen Damen halfen ihr bald dabei. Im Unterhause aber zischte es jetzt von rechts her und zwar zugleich geringschätzig, herablassend und heftig, mit dem Affekt des Treffen- und Verletzenwollens:
    »Immer diese dumme Eitelkeit und Lügerei! Du meinst vielleicht, es glaubt dir irgend jemand, daß du dieses lateinische Gedicht wirklich nicht gekannt und daß du diese Übersetzung in Versen jetzt im Augenblick erst gemacht hast? So dumm ist doch niemand. Aber du willst nur Effekt machen. Wie ein Frauenzimmer. Auf diese Weise und mit dieser Eitelkeit wirst du es im Leben nicht weit bringen.«
    Stangeler sah seine Schwester maßlos verblüfft an. »Ich bin so dumm«, bemerkte der Regierungsrat. Etelka hatte sich nicht beherrschen können, und so war es nicht bei einem bloß für René vernehmlichen Zischeln geblieben. »Ich bin so dumm«, wiederholte er nochmals. »So etwas ist einfach eine Frage des Talents, und Ihr Bruder hat welches. Prosit René!«
    »Nein, ich kenn' ihn besser, Herr Regierungsrat«, sagte Etelka, aber schon in einlenkendem

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