Die Stunde der Hexen - Midnight Hour 4 - Roman
Schatten verblasst war. Vor allem erinnerte ich mich an Carl den Dominanten, Carl den Wütenden. »Aber du hast ein Anrecht auf dein eigenes Leben. Du gehörst ihm nicht.«
Sie nickte. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte immer noch Unsicherheit wider.
»Ruf mich bei deiner Ankunft dort an, okay?«, fragte ich. »Triff dich auf jeden Fall mit Ahmed. Ihm gehört diese Bar, die ganz toll …«
»Ich weiß. Du hast mir mittlerweile zehnmal davon erzählt.« Sie schenkte mir ein Lächeln, das ihr Gesicht kurz erstrahlen ließ. Ich konnte nachvollziehen, warum Carl sie sich ausgesucht hatte. Es machte mich jedoch nur noch wütender, zu sehen, wie vollständig er ihre Persönlichkeit untergraben hatte.
»Ja. Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen eifersüchtig bin. Du stehst am Anfang dieses großartigen Abenteuers.«
»Es fühlt sich an, als würde ich von einer Klippe springen.«
»Irgendwie schon, nicht wahr? Du musst bloß an deinen Fallschirm denken.«
Wir umarmten uns. Es war eine menschliche Geste, keine wölfische. Sie musste Zugriff auf ihre menschliche Seite haben - die Seite, die wusste, dass sie ohne Carl leben konnte -, wenn sie das Ganze durchstehen wollte.
Ich sah ihr nach, wie sie die Rolltreppe zu den Zügen hinunter verschwand, die zu den Flugsteigen fuhren. Für diesen Bereich brauchte man ein Ticket. Das war mir ein Trost. Niemand, der ihr etwas tun konnte, wusste, dass sie hier war. Niemand konnte ihr etwas anhaben. Jetzt war sie in Sicherheit.
»Auftrag ausgeführt?«, fragte Ben bei meiner Rückkehr.
»Ja.« Er begrüßte mich an der Tür, und ich sank in seine Arme. »Umarme mich. Ich kann es gebrauchen.« Das tat er.
»Was wird Carl tun, wenn er es herausfindet?«
Ich murmelte an Bens Schulter: »Er kann nichts machen. Solange er nicht erfährt, dass ihr geholfen worden ist. Was ihn betrifft, ist sie einfach abgehauen. Und er kann nichts dagegen tun.«
Am liebsten hätte ich ihn selbst angerufen und ihm die Worte entgegengeschrien.
Du kannst nichts dagegen tun, du Bastard!
Acht
Mom hatte einen OP-Termin: Freitag, falls es in der Zwischenzeit keine unerwarteten Untersuchungsergebnisse oder Komplikationen geben sollte. Die Ärzte sprachen von einer »Reexzision« und sagten immer wieder, es sei reine Routine, doch das sollte uns nur beruhigen. Sie schnitten trotzdem Stücke aus meiner Mom heraus. Das wollte ich verhindern, wenn ich konnte. Doch es gab keine guten Lösungen, von welchem Standpunkt aus man es auch betrachten mochte.
Nachdem ich Jenny auf Reisen geschickt hatte, hatte ich einen freien Abend, den ich mit Mom verbrachte. Ich wollte meinen Mut zusammennehmen und die Sache mit der Lykanthropie erwähnen. Es war eine verrückte, dumme Idee - ich konnte unmöglich meiner eigenen Mutter vorschlagen, dieses Leben zu wählen. Ich würde mich um sie kümmern müssen, wie ich es bei Ben getan hatte, als er sich im Winter infiziert hatte. Es war schlimm genug gewesen mit anzusehen, wie er sich mit den körperlichen Veränderungen abmühte, was die Schmerzen ihm antaten und zu wissen, was er durchmachte, ohne ihm die Sache auch nur im Geringsten erleichtern zu können. Mom konnte ich mir in der Situation nicht vorstellen.
Doch vor die Wahl gestellt, ob sie das alles durchmachen sollte, oder ich sie ganz verlieren würde, blieb mir im Grunde keine Wahl. Ich musste vor der Operation mit ihr darüber sprechen.
Wir saßen am Küchentisch und aßen Eis aus der Packung. Sie hatte mir den Löffel in die Hand gedrückt, sobald ich durch die Tür gekommen war. »Das Leben ist kurz«, sagte sie. »Diese Woche werde ich völlig dekadent sein. Kaum zu glauben, dass ich mir all die Jahre Sorgen um mein Gewicht gemacht habe. Hätte ich gewusst, dass ich sowieso alles auf einen Schlag verlieren könnte, hätte ich mehr Eis gegessen.«
»Mom, red nicht so«, sagte ich halbherzig.
Sie bedeutete mir, mich über den Kübel herzumachen. Rocky Road. In der ganzen Küche roch es stark nach Schokolade. »Ich habe ein Anrecht auf ein wenig Galgenhumor.«
»Das klingt, als würdest du aufgeben.«
»O nein!«, sagte sie mit dem Mund voll Eis. Sie schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Vertrau mir, ich werde nicht aufgeben. Es gibt zu viele Gründe, weswegen ich am Leben bleiben muss.« Sie klang hart, wie eine Amazone oder eine Walküre, mit einem kämpferischen Ton in der Stimme, der sonst immer nur zu hören war, wenn sie von Tennismatchs sprach. Ich war stolz auf sie. Sie würde das hier überleben.
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