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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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Sie schüttelte seinen Arm ab und ging ein paar Schritte auf das Fenster zu. Als Patrice unsicher hinter sie trat und sie umarmen wollte, stieß sie ihn mit einer heftigen Bewegung zurück. »Geh!«, flüsterte sie heiser. »Geh sofort und komme nie wieder!«
    Niemals, das schwor sich Fleur, niemals würde sie sich noch einmal so verletzen lassen, wie Patrice sie verletzt hatte. Aber sie würde auch niemals wieder einen Mann so lieben können, wie sie Patrice liebte.
    Sie hörte, dass Patrice in die Tasche seiner Lederjacke griff und etwas herausholte. Er riss eine Seite aus seinem Notizblock und schrieb etwas darauf. Aus dem Augenwinkel heraus sah Fleur, wie er einen Zettel auf den Tisch legte.
    »Das ist die Adresse und die Telefonnummer eines Kollegen, der den Eingriff durchführen wird. Du musst mich verstehen, aber dieses Kind kann nicht geboren werden. Du brauchst keine Angst zu haben, er ist ein exzellenter Chirurg. Es wird alles gutgehen, und es wird keine gesundheitlichen Folgen für dich geben. Die Kosten übernehme ich natürlich. Du musst dir keine Gedanken machen, ich bin für dich da. Soweit mir das möglich ist«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu. »Du darfst keine Zeit mehr verlieren«, schärfte er ihr noch ein.
    Als Fleur nach wie vor nicht reagierte und in Schweigen verharrte, ging er zur Tür, blieb stehen und redete dann mit abgewandtem Gesicht leise von der Verantwortung, die er schließlich den Menschen gegenüber habe, die ihn liebten. »Manchmal kann man im Leben nicht das tun, was man möchte. Bitte verstehe mich doch, Fleur! Es gibt nun mal Verpflichtungen, denen man sich nicht entziehen kann.«
    Fleur wurde schwarz vor Augen, Schweiß brach ihr aus, und sie konnte kaum atmen. Doch plötzlich brachen Wut und Verzweiflung aus ihr heraus:
    »Ständig sprichst du von Verantwortung deiner Familie gegenüber, aber was ist mit deiner Verantwortung für das Kind, das ich erwarte, Patrice, und für mich, die Frau, der du gesagt hast, dass du sie liebst?« Alle Dämme brachen, als sie auf ihn zutrat und mit ihren Fäusten auf ihn einschlug. »Du Feigling, du Mistkerl, du …«
    Mit einem geschickten Griff packte Patrice ihre Fäuste und drückte ihre Arme fest an ihren Körper. »Ja, ich weiß, wie du dich fühlst. Fleur, es tut mir leid, wirklich. Ich bin nun mal verheiratet, und das hast du gewusst, auch, dass ich meine Frau nicht verlassen kann. Ich habe dich nie belogen. Ich habe dir nie etwas vorgemacht, war immer ehrlich zu dir. Begreif doch, dass eine Abtreibung die einzige Lösung ist, und ich denke, das weißt du auch.«
    »Weiß ich das?« Fleurs Stimme klang jetzt tonlos und verzweifelt, aber Patrice hatte sich bereits umgedreht und öffnete die Wohnungstür.
    »Adieu und … und alles Gute.« Seine Stimme klang heiser, und er räusperte sich, verharrte noch einen kurzen Moment, bevor er die Wohnung verließ und die Tür fest hinter sich schloss.
    Fleur hörte ihn die Treppe zum dritten Stock hinuntergehen, hörte den Aufzug langsam heraufrumpeln, und sie lauschte ihm nach, als er Patrice nach unten brachte.
    »Patrice«, flüsterte sie. »Patrice.«
    Wie sollte sie leben ohne ihn, ohne das Glück, ihn zu lieben, ohne seine Umarmung, sein Lächeln, die Stunden mit ihm? Er ist es nicht wert, geliebt zu werden. Ginette hat recht … sie hat recht.
    Stille umfing sie, draußen setzte leiser Regen ein, als sie sich endlich aus ihrer Erstarrung löste und sich kerzengerade aufs Bett setzte. Leere und Hilflosigkeit überwältigten sie, und die Angst vor der Zukunft schnürte ihr die Kehle zu.
    *
    November 1960
Saint-Emile
    Im frühen Morgenlicht wirkte die schmale Rue Boursicault noch verlassener als sonst. Ein Polizist, der auf dem Weg zum Dienst war, fühlte sich beobachtet, hob den Kopf und winkte Denise zu, die müde am offenen Fenster lehnte.
    Die ganze Nacht hatte sie in der Schneiderei ihrer Mutter durchgearbeitet, um das grüne Cocktailkleid für Madame Binet zu nähen. Sie hatte sogar noch Zeit gefunden, das Oberteil zu besticken, und es hatte ihr Spaß gemacht, die kleinen Steine nach einem selbstentworfenen Muster aufzunähen. Sie war müde, aber sie fühlte sich lebendig wie schon lange nicht mehr. Während sie dem Polizisten nachsah, wie er auf die Place de la Victoire einbog, überlegte sie, ob sie schnell zum Bäcker laufen sollte, um frische Croissants zu holen.
    Sie schloss das Fenster und ging zu der Schneiderpuppe, über die sie das Kleid gezogen hatte. Es war die

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