Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
es mein Schicksal, immer zu spät zu kommen?«, rief Nial und riss sie verzweifelt in die Arme. »Finde ich dich im letzten Moment …«
Sie klammerte sich stumm an ihn, schmiegte sich an seine heftig atmende Brust, kroch fast in ihn hinein, ging in ihm auf, ein Körper, eine Seele, für immer, wenn doch nur ihr Schluchzen aufhören würde …
»Ich verlor ihn, im Wald«, murmelte er und wiegte sie, in der Hoffnung, sie – und sich selbst – beruhigen zu können. »Die ganze Zeit war ich in seiner Nähe, wie ein Schatten, und einmal gelang es mir sogar, ihn von deiner Fährte abzulenken. Doch dann verlor ich ihn und fand nur diese Frau mit den halb verhungerten Kindern …«
»Beth ist tot«, unterbrach sie ihn so leise, dass er es kaum verstand. Gnädig verbarg die Nacht, dass er kaum Trauer für die Mörderin zeigen konnte.
»Und ich bin fast zu spät gekommen …«
»Nein«, flüsterte sie, »du bist da, alles ist gut. Du bist da.« Und obwohl es nicht erlaubt war, küsste sie ihn auf den Hals, und er fühlte ihre Nase an seinem Nacken und umschlang Christina fester, damit sie nicht auf die Idee kam, sie von dort wegzunehmen.
War es Nacht, war es Tag? Schien die Sonne? Oder fiel still der Schnee zur Erde? Spielte das eine Rolle? In seinem Herzen war es heller Tag, die Sonne schien und goss mit Sommerwärme Unbeschwertheit über sie beide aus, und vor seinem inneren Auge erschien das Bild eines immergrünen Paradieses, wo niemand sie nach dem Namen fragen würde … er lächelte und neigte den Kopf, um sie noch dichter bei sich zu haben.
»Ich werde bei dir bleiben. Wir gehen den Weg zusammen«, sagte er leise.
Sie antwortete erst nicht. Dann fühlte er, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen und sie ein »Ja« an seinen Hals hauchte. Glück schwappte über ihn. Alles würde gut werden. Er hatte seinen Instinkten und denen des Pferdes vertraut und sie gefunden, zwar wieder im letzten Moment, aber noch zur rechten Zeit. Alles würde gut werden. Endlich wich die furchtbare Anspannung aus seinen Gliedern. Und die Erleichterung ließ ihn den nächsten Fehler begehen, denn weil sich seine Sinne nur auf sie konzentrierten, bemerkte er den herannahenden Reiter zu spät.
»Für einen Betbruder hast du immer erstaunlich viele Frauen am Hals, weißt du das?«, ertönte die Stimme seines Bruders giftig hinter ihm. »Und was noch viel schlimmer ist – die Bettelweiber am Fluss sind dir offenbar nicht genug. Ich werde dem ein Ende bereiten und dir diese Frau, die letzte in deinem verdammten Leben, jetzt entreißen.« Und die Klinge bohrte sich wie eine Ankündigung in seinen Rücken. »Aber spiel noch ein wenig mit mir, Bruder.«
Nial stieß Christina von sich, damit sie sich in Sicherheit bringen konnte. »Lass den Unfug, es geht um weitaus mehr als eine Frau!«
»Es geht um genau diese Frau. Und Unfug ist, was du hier tust – mir schon wieder eine Frau wegzunehmen!«, knurrte er grimmig. »Du bist nicht der rechte Mann, mir zu sagen, was Unfug ist!« Fluchend gestand Nial sich ein, dass er diese Geschichte wohl nicht loswerden würde, solange sie beide lebten.
»Ich nehme sie dir nicht weg, sie hat niemals zu dir gehört!« Beschämt musste er sich eingestehen, dass sie stritten wie in Kindertagen. Manche Dinge hörten nie auf. Und so entschloss er sich, einfach die Wahrheit zu sagen, was immer es auch kosten würde. »So wahr mir Gott helfe, Bruder – ich liebe sie.«
»Oh, schon wieder mal. Deine Liebesschwüre sind herzerweichend. Stirb einfach diesmal dafür, Bruder«, lachte Máelsnechtai voller Hohn, »stirb herzerweichend und hör dir an, was Gott zur Fleischeslust eines Betbruders zu sagen hat!« Und die Klinge des Mórmaer schwang ohne Vorwarnung durch die Luft und hätte Nials Kopf von den Schultern getrennt, wenn Christina sich nicht auf ihn gestürzt und ihn mit der Wucht von zwei Sprüngen rückwärts zu Fall gebracht hätte. Noch im Flug dehnte die Klinge sich hungrig nach ihrem Opfer, wurde länger, giftiger, züngelte wie eine böse Schlange nach Blut – und erwischte ihn triumphierend immerhin noch an der Brust. Aufstöhnend fiel Nial in den Schnee. Er wollte sich aufrappeln, doch der Schmerz kniete auf seiner Brust und nagelte ihn am Boden fest.
Máelsnechtai lachte. »Du bist leicht zu bezwingen, Bruder. Ich hätte das schon viel früher tun sollen – schon damals, als du deinen Schwanz in jedes Weib stecken musstest, das mir gefiel, und nicht mal vor meiner Verlobten
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