Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
zurückschrecktest! Heut nun sei der Zahltag, bevor du mir das nächste Weib stiehlst! Aus dem Weg, Frau!« Der Mórmaer holte erneut aus, diesmal lachend und gewiss, seinem Schwert das verdiente Mahl zu bereiten.
Mit der gleichen Gewissheit, mit der sie dem Wolf begegnet war, trat sie nun dem Schotten entgegen. Reglos hing die Waffe in der Luft, sie hatte genauso wenig Macht über Christina wie die Wolfszähne. Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu. Nein, sie würde nicht noch jemanden verlieren. Dass ihr Beth genommen worden war, saß wie ein Stachel im Fleisch – Nial würde sie nicht auch noch hergeben. Kühle Kraft geleitete sie, schützte sie vor der Wut des Mannes.
»Ihr werdet mich in Ruhe lassen, bis ich meine Aufgabe erfüllt habe«, sagte sie mit ruhiger Stimme und streckte den Arm aus, um auf sein Gesicht zu deuten. Sie fühlte deutlich, wie der Boden sie trug, stark machte, wie er ihr Halt gab in dieser lebensgefährlichen Situation. In ihrem Körper vibrierte etwas. Um sie herum schmolz der Schnee. Das Wasser netzte ihre Füße und leckte an ihrem Rock.
Die Waffe fiel aus dem Himmel zu Boden. Der Mórmaer schien sie einfach losgelassen zu haben, denn beide Hände hingen schlaff herab. Fassungslos starrte er sie an.
»Ihr werdet mich in Ruhe lassen«, wiederholte Christina, »bis meine Aufgabe beendet ist, hlæfweard . Ihr werdet Eure Waffe nicht gegen mich erheben, oder Gott soll Euch dafür strafen.« Dann trat sie noch einen Schritt näher. Sie war hellwach, sie spürte nichts von Schwindel und Ohnmacht – nur noch unbändigen Willen, den Schotten zurückzuweisen.
»Und Ihr werdet diesen Mann in Frieden lassen.« Ihr Arm sank herab, dann straffte sie sich, hob nun beide Arme und wehrte ihn mit den Handflächen ab, obwohl er gar nicht in der Lage war, auch nur einen Schritt auf sie zuzugehen oder sich gar nach seinem Schwert zu bücken.
»Ihr werdet diesen Mann in Frieden ziehen lassen. Ihr werdet Euer Schwert niemals wieder gegen Euren Bruder erheben.«
Er erstarrte. Er versuchte sich zu bewegen, doch ihre Hände schienen auch das zu verhindern. Christina kniff die Augen zusammen. Er bewegte sich tatsächlich nicht. Was hatte sie da gerade gesagt? Er bewegte sich nicht, lachte nicht, fuhr ihr nicht verächtlich über den Mund. Starrte sie nur an. Selbst der Mond schien sich zu wundern und leuchtete prüfend in das Gesicht des Schotten. Ihr war jetzt heiß … unerträglich heiß … Schweißströme rannen unter den Kleidern an ihrem Körper herab, kitzelten sie zwischen den Brüsten, tropften in den Gürtel. Mit der Linken riss sie sich das Schneefuchsfell vom Leib. Katalin hätte helfen können, hätte ihr sagen können, was hier passierte – Katalin hatte sich ausgekannt mit dem, was táltos ihr ins Blut gelegt hatte und was sie von ihren Geschwistern unterschied … Doch Katalin würde ihr nie wieder raten können, denn der Mann, der vor ihr stand, hatte sie getötet. Er war es gewesen, das wurde Christina hier schlagartig klar. Er hatte sie vergiftet, beiseitegeräumt, um sich die begehrte Frau zu greifen, die von der Amme beschützt worden war. Sie, Christina. Das Geständnis dröhnte in ihrem Kopf, ohne dass ein Wort davon ausgesprochen worden war. Máelsnechtai wollte sie, und er war dafür über Leichen gegangen. Er würde es wieder tun, um sie zu bekommen.
Dem Mórmaer hatte es immer noch die Sprache verschlagen. Er starrte sie an, als hätte er ein Ungeheuer vor sich, das ihm an den Kragen wollte, und er hatte trotz seiner unglaublichen Kraft offenbar keine Möglichkeit, sich gegen dieses Ungeheuer zur Wehr zu setzen. Noch nicht. Doch wenn seine Kraft zurückkehrte, war Nial ein toter Mann, sie konnte die Mordlust des Schotten wie scharfe Zähne an ihrem eigenen Körper fühlen.
Christina ließ die Arme sinken. Nial hinter ihr war es gelungen, sich auf die Seite zu drehen. Geistesgegenwärtig griff er nach dem herrenlosen Schwert und kroch aus der Gefahrenzone. Dann brach er mit einem Stöhnen zusammen. Sie ging langsam rückwärts. Der Mórmaer bewegte sich nicht.
Aus der Ferne drang das schauerliche Heulen der Wölfe, die sich im Wald zusammengefunden hatten, um ihre toten Gefährten zu betrauern. Ihre Stimmen krochen winselnd durch Schnee und Schneematsch und erhoben sich dann kühn über die Baumwipfel. Ein Schatten kam langsam näher, mit hängendem Kopf folgte ihm ein Pferd. Ruaidrí, der rothaarige Gefolgsmann, der so schnell die Seiten gewechselt hatte. Christina
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