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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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kämpfte ihren Ärger nieder, Ärger half hier nicht, würde alles nur noch schlimmer machen. Und Ruaidrí würde ihr nicht beistehen, dazu fürchtete er den Mórmaer viel zu sehr. Sie überlegte fieberhaft, welchen Ausweg es für Nial und sie geben konnte. Um sie herum stand die Welt still, schien auf ihren Entschluss zu warten.
    Ein Schnauben durchbrach die Stille. Die Erregung der schwarzen Stute hatte sich gelegt, und sie kam nun näher, Schritt für Schritt, bis sie hinter Christina stand. Ein wenig müde war sie wohl vom Kampf gegen die Wölfe, ihre Hufe schlurften durch den matschigen Schnee. Doch ihr zotteliger Kopf ragte stolz in die Luft, damit der Nachtwind sein Lied auf den Saiten ihrer Mähne spielen konnte. Er blies die langen Haare in die Luft und suchte sich die schönsten aus, auf denen das Lied von Rettung am eindringlichsten klingen würde. Die Stute scharrte mit dem Huf. Dann trippelte sie auf der Stelle, legte sich vorsichtig ab, und ihre Gegenwart wurde überwältigend.
    Sie schlüpfte in Christinas Seele, flog in ihren Geist. Erhebe dich , sagte sie, du kannst es . Sie nahm den Geist und breitete ein Netz aus Frieden über den Mórmaer, der vor ihr auf die Knie sank, mit hängenden Armen und wie ein sterbender Krieger. Doch er starb nicht, er wurde gehalten, und ihr Friede lag wie ein beruhigender Balsam auf seinem wilden Herzen. Und so würde es bleiben.
    Christina fühlte sich leicht. Vielleicht weil ihr Geist dahingaloppierte und den Körper hinter sich gelassen hatte. Das Stundenbuch hing wie eine Feder auf ihren Schultern, die Wunden unter den Riemen schmerzten nicht mehr. »Die Pferde«, hatte Katalin immer gesagt, »die Pferde gehören zum táltos .« Wie ein Windhauch kam die Erinnerung an früher vorbei, an das, was in den Pferdeställen von Meksnedad passiert war, wie sie dort die Zeit vergessen hatte, geflogen war, davongeflogen war. Wie sie die Mutter geängstigt hatte. Es war immer noch in ihr. »Ja«, hörte sie in ihrem Kopf, »es wird immer da sein, nimm es an.«
    Máelsnechtai kniete und schien Gott zu sehen, auch dann noch, als sie sich zu Nial kauerte und ihn in die Arme nahm.
    »Flieh, Christina«, flüsterte der culdee mühsam, »er hat mich heftig erwischt. Nimm mein Pferd und flieh – vielleicht kann ich ihn hier noch aufhalten …« Sein Atem ging stoßweise, und erst jetzt spürte sie, dass seine zerfetzte Kutte auf der Brust von Blut durchnässt war. Die Klinge seines Bruders hatte ihm nicht den Tod gebracht, aber vielleicht ein grausam langsames Sterben, weil das Leben unaufhaltsam wie ein Rinnsal aus seinem Körper sickerte und der Schmerz ihn niederdrückte.
    Christina bettete seinen Kopf an ihre Brust. Ihn für immer dort haben! Sehnsucht marterte ihr Herz. »Nein«, flüsterte sie, »nein, nein, ich lass dich nicht zurück …«
    »Gott straft mich zu Recht«, flüsterte er, »ich hab den Tod verdient, Mädchen – lass mich das hier noch für dich tun, bevor …«
    »Nial …« Sie vergrub ihre Hand in seinen Locken hinter dem rasierten Haaransatz, bedeckte die hohe Stirn mit Küssen, hielt ihn ganz fest und wiegte ihn in den Armen. Und wenn sich ihrer beider Schicksal jetzt wenden würde, wenn des Mórmaers Klinge erneut sprechen, sie beide zusammen hinwegfegen würde – dann sollte das so sein. Sie war untrennbar mit ihm verbunden und würde mit ihm gehen, auch in den Tod.
    Erhebe dich , hörte sie es in sich tönen, tu es jetzt.
    »A finibus terrae ad te clamavi, dum anxiaretur cor meum.« Heiser klang die Stimme des Mórmaer. Für seinen Mund schienen die Psalmenverse ungewohnt zu sein, und viel mehr schien er auch nicht zu kennen, denn er wiederholte diese Worte immer wieder. Er kniete immer noch an jener Stelle, gefangen in jenem Netz aus Frieden, er war keine Gefahr. Vielleicht betete er für seinen Bruder, vielleicht auch für sein eigenes Seelenheil – die Mordlust war von ihm gewichen, hatte sich zusammen mit der Gefahr davongemacht.
    Christina bettete Nial in den Schnee zurück. Erhebe dich. Atem füllte ihren Brustkorb, mehr Atem als sonst. Nial suchte ihren Blick, und in seinen Augen las sie von der Furcht vor einem langsamen, unaufhaltsamen Tod. Und da war es gleichgültig, ob sein Mörder bei ihnen kniete, ob sich hinter ihnen die Wölfe heulend zum nächsten Angriff formierten, was der Fahle, den sie nirgends entdecken konnte, als Nächstes plante und wie sehr die Zeit für sie selber drängte, Jarrow zu erreichen und das Leben ihrer Schwester

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