Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Brust. Was die Leute denken würden. Was über sie, die hier alle nur respektlos die Zwergin nannten, geredet werden würde. Getratsche, Gelächter. Sie war zu schwach, um sich zu wehren oder zu widersprechen, und sie war immer noch zu aufgewühlt vom Erlebten, um einen klaren Gedanken zu fassen. Eines aber wusste sie: Katalin hatte recht. Sie trug das Erbe. Sie hatte ein Feuer gesehen, dann Wärme, Hitze, hatte großen Druck gespürt. Dann hatte sich alles aufgelöst, und sie war geflogen, wie damals in Meksnedad … als Kind hatte sie davor solche Angst gehabt. Den kleinen Vogel mit der Hand für jemanden aussenden war einfach und ein Spiel.
Doch das, was sie am Strand erlebt hatte, war kein Spiel, es hatte sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Sie grub in ihrem Gedächtnis. Katalin … Katalin, die immer schon da gewesen war, seit sie sich erinnern konnte – Katalin hatte gesagt, dass nur wenige Menschen aus dem Volk der Magyaren die Kraft zur heilenden Versenkung besaßen. Táltos waren die Heiler der Magyaren, man wurde dazu geboren, man erbte es von den Vorvätern, und sie hatte es von ihrem Großvater geerbt. Die táltos lebten unter ihren Mitmenschen, ohne dass man sie kennzeichnete – man wusste es einfach, so hatte Katalin es immer erklärt. Sie, Christina, trug das Heilererbe, das war táltos . So nannte Katalin das. Katalin, die alles wusste … Und sie hatte stets versucht, ihr die Angst davor zu nehmen. Hatte vielmehr versucht, ihr ihre Kraft zu erklären und dass es nichts Sündhaftes war. Gott liebte diese Menschen …
Als Kind hatte Christina diesen Zustand jenseits des spielerischen Vogels geliebt und gleichzeitig gefürchtet. Überall da, wo noch ein Funke Leben war, hatte sie ihn nähren können, bis er zur Flamme wurde. In London war er dann in Vergessenheit geraten, sie selbst hatte den táltos in sich vergessen, weil es in der friedlichen Abgeschiedenheit der Klosterschule keine Notwendigkeit gegeben hatte, ihn zu suchen. Selbst mit dem Vogel hatte sie nur selten gespielt, im Kloster herrschte tagein, tagaus Friede, und man hielt die hochgeborenen Mädchen aus königlichem Hause von den Kranken fern. Und nun war es wieder passiert, und es war so einfach gewesen, dorthin zu gelangen. Und niemand hatte es verstanden, außer …
»Nial«, flüsterte sie mühsam. »Wo ist Nial?« Sie vermisste seine Arme – daran erinnerte sie sich wie beim ersten Mal. Er hatte bei ihr gestanden, als sie flog. Sie erinnerte sich an seine Arme, die sie liebevoll und wie ein starker Schutzwall umfingen. Nial schien alles zu wissen, alles zu begreifen, was mit ihr geschehen war …
»Er ist nicht hier, Kind. Mach die Augen zu«, sagte Katalin mit sanfter Stimme.
»Nial …«, jammerte sie, zu schwach, um tapfer zu sein, wie man es von ihr erwartete. Sie streichelten sie und gaben ihr warmes Honigwasser zu trinken, und langsam kehrten ihre Lebensgeister zurück. Katalin vertrieb die neugierig gaffenden Weiber und setzte sich wie ein grimmiger Wachturm neben Christina, während die Schwester ihr in ein sauberes Leinenhemd half. »Wo ist Nial?«, fragte sie wieder.
»Er hat dich am Tor abgeliefert, Stina. Dann musste er gehen«, sagte Margaret und legte sich neben sie. »Er durfte nicht in die Festung, die Wachen verwehrten ihm den Zutritt, verjagten ihn schließlich. Jemand sagte, dass der König nicht wünscht, ihn hier zu sehen.« Zärtlich streichelte sie ihr über das Haar und schob die schweren blonden Flechten vom Hals weg, als könnte das der Schwester das Atmen erleichtern. »Er hat dich den ganzen Weg hierher getragen, Stina.« Christina drückte das Gesicht in die Felle. »Er ist ein Mönch, sagen die Frauen«, fuhr Margaret fort. Es tat gut, sie so dicht bei sich zu spüren. »Er sieht nicht aus wie ein Mönch. Ist er denn wirklich ein Mönch?« Und dann steckte sie ihre Nase an Christinas Ohr, damit niemand außer ihr hörte, was sie noch gesehen hatte. »Soll ich dir mal was sagen? Er trug dich nicht wie ein Mönch, Stina. Er trug dich wie ein Liebender.«
Sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht kroch, und hörte Margaret leise lachen. »Hat er dir gefallen? Ein wirklich schöner Mann hat dich da nach Hause getragen. Ich sag dir noch was. Eines Tages wirst du einen Mann wie ihn bezaubern und in dich verliebt machen …«
»Das will ich nicht!«, widersprach Christina heftig. »Ich will bei dir sein, für immer, wie ich dir versprochen habe. Was auch kommt …«
»Ich werde nicht
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