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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Christina erschaudernd.
    »Zumindest rückt sie in Reichweite«, flüsterte Margaret zurück.
    »Wirst du wirklich ablehnen können?«, fragte Christina nach einer Weile. Darauf sagte Margaret nichts, und das beunruhigte Christina zutiefst.

DRITTES KAPITEL
    Mein Freund antwortet und spricht zu mir:
    Stehe auf, meine Freundin,
    meine Schöne, und komm her!
    Denn siehe, der Winter ist vergangen,
    der Regen ist weg und dahin.
    (Hoheslied Salomonis 2,10-11)
    A n diesem besonders düsteren Tag saßen sie mit der ganzen
Familie in der Kapelle unterhalb der Festung. Agatha hatte sich kräftig genug gefühlt mitzukommen, und gestützt auf Edgars Arm, war sie den Pfad hinuntergestiegen. Vor einiger Zeit hatte sich ein heftiger Husten auf ihre Brust gelegt. War er anfangs noch trocken und heiser gewesen, rasselte er nun und raubte ihr zunehmend die Luft. Ihre Lippen färbten sich blau, und abends massierten die Mädchen ihre angeschwollenen Füße. Edgar hatte ihr aus Eichenholz einen Stock geschnitzt, mit dem ihr das Laufen leichter fiel, und das Kräuterweib räucherte wilden Thymian in der Schlafkammer und zwang sie, einen Hustensirup aus Terpentin, Butter und zerstoßenem Meerrettich zu löffeln. Agatha nannte die Alte ein Zauberweib und sprach vor jedem Löffel ein Ave-Maria, aber zumindest ihr Husten besserte sich.
    Obwohl es seit Tagen ohne Unterlass regnete und sich erster Schnee unter die Tropfen mischte, hielt sich hier niemand dafür verantwortlich, die Wege zur Festung passierbarer zu machen. Die Pferde stapften unermüdlich durch den Schlamm, und alle, die zu Fuß gehen mussten, fanden sich damit ab, dass ihre Kleider bis zum Bauchnabel vor Lehm starrten. Christina war stolz auf ihre Mutter, dass sie den Weg zur Kirche dennoch gewagt hatte. Das nasskalte Wetter machte ja selbst den jüngeren Frauen zu schaffen. Nur Edgar hielt sein Gesicht trotzig dem Regen entgegen und hatte offenbar beschlossen, nicht zu frieren, um sich Schottlands würdig zu erweisen. Darüber musste Christina grinsen.
    Der Mönch, der das Gotteshaus betreute, war herbeigeeilt, kaum dass die Tür ins Schloss fiel, und hatte ein weiteres Talglicht auf den Altar gestellt, damit man nicht auf die Nase fiel, wenn man sich einen Platz zum Beten suchte. Gottes Nähe schien jedoch immer noch nicht viele Besucher anzulocken, dachte Christina angesichts der leeren Kirche. Sie vermisste den warmen Duft von Bienenwachs, wie sie es von den wohlhabenden Kirchen in London gewohnt war, wo die Altarräume hell erleuchtet waren und wo die Luft nicht nach gekochtem Tierfett stank.
    »Aber eine Kirche ist ja doch etwas anderes«, flüsterte auch Agatha, als sie mit ihren Gebeten fertig war. »Gütige Jungfrau, euer Vater wäre entsetzt, wenn er uns hier so sehen würde …« Traurig blickte sie zu Boden und versank in Erinnerungen an bessere Zeiten, die sie an der Seite ihres wunderbaren, viel zu früh verstorbenen Mannes hatte erleben dürfen.
    »Sie sagen, dass es in Dunfermline eine richtige Kirche gibt«, gab Christina zu bedenken. »Es gibt auch mehrere Priester dort, sagt die Küchenmagd. Und das Haus soll größer sein und eine richtige Latrine haben. Eine, wo man alleine sitzen kann, sagte die Magd. Habt ihr so etwas schon einmal gesehen?«
    Edgar kicherte. Obwohl er dem Kindesalter entwachsen und nun ein Mann war, führten sie ihre Frauengespräche ungerührt in seinem Beisein, und das schien ihn zu amüsieren. Manchmal war es noch wie früher. Christina wusste, dass er das mochte. »Hast du schon mal so eine Latrine gesehen? Erzähl doch mal«, neckte sie ihn.
    Katalin zog ihren Schal gerade und schickte einen vernehmlichen Seufzer die feuchten Wände hoch. Die Amme hasste dieses düstere Gemäuer und war gewiss der Ansicht, dass Margaret ihr Gebet zu sehr ausdehnte. Und dass Christina in der Kapelle über Latrinen sprach, stieß ihr vermutlich erst recht auf, doch vor Agatha wagte sie nie, die Mädchen zurechtzuweisen.
    »Ich frage mich aber wirklich, warum er uns dieses Dunfermline vorenthält und uns hier aufbewahrt«, maulte Christina. »Ich sag’s euch, es macht ihm Spaß, uns in diesem Dreck sitzen zu lassen.«
    »Das stimmt nicht!«, protestierte der Bruder. »Und ein Dreck ist es auch nicht …«
    »Du bist ungezogen, Christina«, mahnte Agatha und rüttelte an ihrer Schulter. »Wie kannst du nur solch gottlos dummes Zeug reden, halt sofort deinen vorlauten Mund! Was hat dieses Land nur aus uns gemacht …«
    »Genau – was hat das Land aus

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