Die Stunde der toten Augen
schlaf dich aus. Wenn es finster ist, marschieren wir. Ich verspreche dir feierlich, daß ich dich im nächsten Wald liegenlasse, wenn du nicht weiterkannst. Sie werden uns nicht entgegenkommen, wir müssen nach Westen gehen. Und nun nimm die Panzerfaust beiseite, ich habe keine Lust, mit dem Ding hochzugehen, wenn du aus Versehen auf den Knopf drückst!"
Das Feuer wurde stärker. Noch immer war nicht zu unterscheiden, ob es die Batterien der Roten Armee waren, die da feuerten, oder ob der Beschuß von der deutschen Seite kam. Aber nachdem die beiden Männer eine halbe Stunde wartend hinter den Mauern der Mühle gehockt hatten, hörten sie, wie das Feuer plötzlich anschwoll und zum Orkan wurde.
Timm horchte auf. Sein Gesicht bekam einen gespannten, erwartungsvollen Ausdruck. Er erhob sich, obwohl es ihn große Anstrengung kostete, und trat vor die Mühle. Es war dunkel geworden. Im Westen war der hin und her flackernde Widerschein der Granateinschläge am Horizont. Die Luft war
erfüllt von dem dumpfen Gedröhn, und Timm glaubte auch Gewehrfeuer zu hören. Er strengte sein Gehör an und stand lange mit vorgestrecktem Kopf an der Mauer der Mühle. Dann löste sich aus dem Getrommel in der Ferne langsam ein tiefer, brummender Ton, der heller und immer
heller wurde. Vom Westen her kamen ein paar Flugzeuge. Timm konnte sie am wolkenverhangenen Himmel nicht erkennen, aber er hörte ihre Motoren immer lauter werden. Die Maschinen zogen eine Kurve. Dann heulten ihre Motoren plötzlich auf, und sie schossen herab, in geringer Höhe über das ebene Land rasend. Das Motorengeheul schreckte Zado auf. Er sprang aus dem Dunkel der geborstenen Mauern zu Timm hinaus und suchte am Himmel die Maschinen.
„Eine Staffel Me's...", flüsterte Timm erregt, „es geht los! Jetzt geht's ihnen schlecht!"
Plötzlich waren die Maschinen dicht über ihnen. Sie flogen unter der Wolkendecke, und die beiden konnten sie nun erkennen. Es waren vier Maschinen, deren Silhouetten einander ähnelten. Aber die eine versuchte, sich von den anderen drei Maschinen zu lösen. Es gelang ihr nicht, denn die drei anderen jagten hinter ihr her, und aus ihren Tragflächen züngelten die Flämmchen der Bordwaffen.
„Da...", sagte Timm. „Jetzt..."
Die gejagte Maschine zog steil aufwärts. Es war der letzte Versuch, zu entkommen. Einer der Verfolger ließ seine Maschine aufbäumen und zog mit hämmernden Maschinengewehren hinter der entschwindenden Maschine her in die Wolken. Von dort kam Sekunden später ein Aufflammen, und dann raste der Rumpf der ersten Maschine brennend in die Tiefe. Die Tragflächen flatterten wie schaukelnde, welke Blätter hinterher.
„Aus!" rief Timm. Aber in diesem Augenblick zog die Kette der drei Maschinen, die sich wieder vereinigt hatten, heran und preschte mit jaulenden Motoren dicht über die Mühle hinweg. Die Unterseite ihrer Tragflächen war hell gestrichen. Zado sah dort die großen, roten fünfzackigen Sterne. Er blickte zu Timm und sagte: „Aus ist der Traum von deinen Messerschmitts. Die eine Messerschmitt, die sich blicken ließ, liegt hinten im Wald."
„Sie kommen trotzdem ...", antwortete Timm verbissen. Er zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Es klang wie das Knurren eines gereizten Tieres, als er heiser flüsterte: „Sie kommen einmal. Du wirst es sehen, daß sie kommen! Noch haben wir sie an der Kehle. Und bald werden wir ihnen die Kehle zuschnüren..."
Während er in das Flackern der Explosionen im Westen starrte, zog sich Zado das beschmutzte Schneehemd aus. Er ließ die Fetzen einfach liegen. Dann steckte er die Pistole in die Manteltasche und nahm die Maschinenpistole schußbereit in die Hand. Er war müde und hungrig, und das Feuer im Westen ließ seine Nerven beben.
„Los!" forderte er Timm barsch auf. „Laß jetzt das Phantasieren. Nimm dich zusammen. Wir müssen es während dieses Angriffs schaffen. Danach liegt die Front zwanzig Kilometer weiter westlich. Das schaffen wir nicht mehr."
Er setzte sich in Bewegung. Er ging geduckt, nach allen Seiten spähend, langsam und katzengleich. Timm klemmte sich die Panzerfaust unter den gesunden Arm. Er murmelte leise vor sich hin: „Wir kriegen euch alle noch. Wir kriegen euch. Wir werden euch alle umlegen, es wird nicht mehr lange dauern..."
Er meinte die Flieger in den Maschinen mit den roten Sternen und die Artilleristen, die nach Westen schössen, er meinte die Fahrer, die mit ihren Lastwagen Munition zur Front transportierten, und die
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