Die Stunde der toten Augen
durch eine Mauerlücke ins Innere der Mühle, sich dabei mit vorgestreckter Pistole einmal im Kreis drehend. Aber es war niemand da.
Er untersuchte das zerschossene, halb verfallene Gebäude bis zum Dach und fand manches, was darauf hindeutete, daß Soldaten hier gehaust hatten. Doch sie waren nicht mehr da. Sie hatten hier einen Haufen leerer Konservenbüchsen hinterlassen und dort ein Häufchen Exkremente, in einer Ecke eine zerrissene Zeltbahn und in einer anderen einen leergeschossenen MG-Gurt. Die Räume waren von den Granaten verwüstet. Balken hingen frei in der Luft, und stellenweise gähnten in den Dielen riesige Löcher. Als Zado sicher war, daß kein Lebewesen die Mühle bewohnte, schob er den Oberkörper durch ein Loch in der Mauer und winkte Timm. Der Unteroffizier erhob sich mühsam und kam auf die Mühle zu. Er ging gebückt, eine gebrochene Gestalt, deren Augen allein noch daran erinnerten, daß Leben und Bewußtsein in ihr waren.
„Hau dich hin", sagte Zado zu ihm, als er sich durch die Lücke im Mauerwerk zwängte, „hau dich irgendwo hin und schlafe. Du siehst aus, als ob du schon gestorben wärst."
Timm schüttelte den Kopf. Aber in seiner Gebärde war nicht mehr die alte Kraft. Aus seinen Augen glänzte das Fieber, und seine Bewegungen waren ohne Energie.
„Timm ist noch nicht tot", sagte er, ohne die Zähne zu öffnen. „Mitternacht sind wir zu Hause. Dann werden sie mich schon wieder zurechtflicken."
Zado warf die Maschinenpistole über die Schulter und wandte sich ab. Er sagte: „Ich krieche aufs Dach. Muß mir die Gegend genau ansehen, solange es noch hell ist. Hau dich solange hin, wir haben ein paar Stunden Zeit."
Er ging, ohne sich weiter um den Unteroffizier zu kümmern. Er kletterte über die zertrümmerten Reste einer Stiege und gelangte in das obere Stockwerk. Ein kalter Zug kam durch die Lücken im Mauerwerk, die von den Granaten gerissen worden waren. Zado stieg weiter, eine schmale Leiter hinauf, die mit Kabeldraht geflickt war. In einer Ecke lag eine Rolle angekohltes Telefonkabel. Es war kein Stäubchen Mehl irgendwo zu entdecken, aber es roch noch immer nach dumpfigem Mehl. Es roch nach Staub und angekohltem Holz.
Als sich Zado durch die Luke auf das Dach zwängte, sah er im Südwesten das Dorf liegen. Er stemmte sich mit den Ellenbogen in die Luke und zog die Beine nach. Als er sicher saß, zog er die Karte hervor und rechnete.
Das war Haselgarten. Er erkannte es, obwohl er es zuvor nie aus dieser Perspektive gesehen hatte. Er war nie in dieser Mühle gewesen. Aber er erkannte das Dorf auf den ersten Blick, obwohl es sein Aussehen geändert hatte. Die Straße war mit Fahrzeugen vollgestopft, und von den Häusern stand nach dem letzten Artilleriefeuer nicht mehr viel. Es herrschte um das Dorf herum eine emsige Betriebsamkeit, die Zado beunruhigte. Über die Feldwege preschten Kolonnen mit kleinen, wendigen Gefechtsfahrzeugen. Im Schutz von Buschwerk lagerten Artillerieabteilungen. Panzer standen bewegungslos am Straßenrand, vollgepackt mit Gepäck und Munition, die die Mannschaften mit Stricken auf den Panzerplatten festgebunden hatten. Zado hatte nur eine vage Vorstellung davon, wo sich gegenwärtig die Front befand. Er rechnete aus, wie weit sie noch zu laufen hatten. Es mochten einige Kilometer sein. Doch hier spürte man noch nichts von dieser Front. Vorn war eine unheimliche Ruhe eingezogen, hinter der dieses Leben pulsierte, das sich seinen Augen in Haselgarten bot. Er hatte ein unbehagliches Gefühl dabei, denn er wußte, daß diese Ruhe trügerisch war. Er wußte, daß sie beide die Front erreichen mußten, ehe diese Ruhe ihr Ende hatte, weil sich im gleichen Augenblick das Ziel ihres Marsches unweigerlich um viele Kilometer weiter nach Westen verschieben würde. Vielleicht so weit, daß sie nicht mehr imstande waren, es noch zu erreichen. Einen Augenblick lang fragte er sich: Warum machst du überhaupt diesen Weg? Warum bringst du es nicht übers Herz, Schluß zu machen? Du siehst, wie es endet, aber du läufst zurück. Dorthin, wo das Ende dich mit großer Wahrscheinlichkeit zerschmettern wird. Wozu das? Doch er konnte sich auch jetzt keine genaue Antwort darauf geben. Er wußte selbst nicht, ob er nur Angst hatte, so wie er war, in dieser Uniform, mit erhobenen Händen auf den nächsten Soldaten zuzugehen und zu sagen: „Ich mache Schluß!", oder ob es daran lag, daß er mit einem Fünkchen Hoffnung noch darauf baute, daß das, was sich hier ankündigte,
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