Die Stunde der toten Augen
Lider über seinen kleinen, runden Augäpfeln ein wenig zusammen. Auf seiner Stirn erschienen die gleichen Falten wie vorhin, als das Telefon ihn beim Rasieren unterbrochen hatte.
„Berichten Sie", forderte er Warasin auf, „aber fassen Sie sich kurz, es kann jeden Augenblick ein Befehl kommen, der unser Gespräch beendet."
Er hörte zu, während Warasin sprach, und unterbrach ihn nicht. Er blickte ihn unablässig an, und die Zigarette, die in der Kellerluft feucht geworden war, ging ihm mehrmals dabei aus. Er schüttelte einige Male nachdenklich den Kopf, aber er sagte nichts, bis Warasin schließlich am Ende war und schwieg. Da erhob er sich, ging auf den Leutnant zu und blieb vor ihm stehen. Er griff sich mit der einen Hand ans Kinn, aber er fühlte dort den Bart und ließ die Hand ärgerlich wieder sinken.
„Warum berichten Sie mir erst jetzt davon, Warasin?" fragte er. „Weil vorn angegriffen wird?"
Warasin begriff ihn nicht sofort. Zuerst nickte er verwirrt, aber dann berichtigte er sich schnell: „Nein, ich war auf dem Weg zu Ihnen, Genosse Balaschow. Der Angriff hat nur meine Überlegung etwas verkürzt."
Balaschow ging ein paar Schritte in der Stube hin und her. Er war ein kleiner, beweglicher Mensch, der seinem Aussehen nach eher einem Mathematiklehrer ähnelte als einem Politleiter in der Armee.
„Diese Sache ist eigenartig", sagte er dann. Er blieb stehen und rieb sich wieder mit der Hand das Kinn. „Es ist nicht neu, daß sie uns hinter der Front solche Stechmücken absetzen, und es ist auch nicht neu, daß wir sie aufstöbern. Aber daß dabei eine Situation wie diese entsteht, ist einmalig. Sie hätten mir früher davon berichten müssen. Über solche Dinge darf man nicht schweigen, Warasin. Sie sind Offizier und lassen es zu, daß dieser Mensch sich hier im Dorf verbirgt ..."
„Der Mann ist ungefährlich", sagte Warasin schnell, „aber ich sehe ein, daß mich das nicht entschuldigt. Ich habe falsch gehandelt, weil es mir zu schwerfiel, richtig zu handeln."
Balaschow winkte ärgerlich ab. „Sie haben es nicht fertiggebracht, den Mann einfach gefangenzunehmen, weil es diese Frau gibt, der Sie dankbar sein wollten. Aber das ist nicht die richtige Form von Dankbarkeit."
„Sie hat mich verborgen gehalten, Genosse Balaschow", sagte Warasin, „und der Soldat wußte davon."
„Ich verstehe. Ein Grund, in dieser Frau keine Faschistin zu sehen. Und der Soldat?"
Warasin blickte auf seine Stiefel. Er schwieg einen Augenblick. Von draußen war das ferne Grollen der Geschütze zu hören. Über dem Dorf waren Flugzeuggeräusche.
„Ein ziemlich junger Mensch", sagte Warasin langsam, „ohne Lebenserfahrung und ohne Maßstäbe. So bekamen sie ihn in die Hände. Das richtige Material, um einen Soldaten daraus zu machen, der bedenkenlos das tut, was ihm befohlen wird. Er tat es, ohne nachzudenken, und es gab wohl niemanden, der ihm erklärte, was wirklich in der Welt geschieht. Erst als es sich zeigte, daß er den kaltblütigen Mord, zu dem sie ihn befohlen hatten, nicht mehr durchhalten konnte, begann er zu überlegen, was sie aus ihm gemacht haben. Er tut es widerwillig. Er hat Angst vor uns. Er reagiert wie ein in die Enge getriebenes wildes Tier. Anfangs war ich mir nicht schlüssig, ob dieser Mensch wirklich eine Gefahr für die Rote Armee bedeutet..."
Balaschow brannte eine neue Zigarette an. Er rauchte hastig. Er stieß den Rauch aus und zog die Stirn in Falten. Dann sagte er: „Ein Versprengter, der von der Nichteinmischung träumt. Solche Versprengte nehmen wir gefangen, Genosse Warasin."
„Ich sehe ein, daß ich diesen Grundsatz verletzt habe."
„Es ist so", sagte Balaschow, indem er mit der Zigarette in die Luft stach, wie um seine Worte zu bekräftigen. „Wir nehmen sie gefangen. Wir erklären ihnen, was sie getan haben und wofür man sie mißbraucht hat. Wir lassen sie arbeiten und lernen. Sind Sie Verbrecher, dann wird man so mit ihnen verfahren, wie sie es verdienen. Sind sie aber nur Soldaten gewesen, denen die Fähigkeit fehlte, zu unterscheiden, was richtig und was falsch war, dann werden wir ihnen die Fähigkeit beibringen, das zu unterscheiden. So verfahren wir mit ihnen. Und ihren Frauen sagen wir, daß dieser Krieg alles andere war als ein Familienidyll und daß die Gefangennahme ihrer Männer die Folge des Krieges ist. Sie sollen sich damit trösten, daß ihre Männer klüger sein werden, wenn sie aus unserer Gefangenschaft heimkommen, und das wird ihren Familien
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