Die Stunde der toten Augen
sie ab. Hinter der Scheune, an die Mauer gelehnt, erbrach er sich. Die beiden hörten ihn, kamen aber nicht näher. Sie blieben auf dem Hof stehen und warteten. Bindig preßte die Hände auf den Leib. Er fühlte den Schweiß auf dem Rücken eiskalt werden. Er stand nicht mehr sicher auf den Beinen, aber die Mauer der Scheune hielt ihn aufrecht. Es dauerte lange, bis er das Messer nicht mehr sah und die Wunde mit dem hervorquellenden Blut. Er hockte sich müde und zerschlagen auf einen Stein hinter der Scheune und legte den Kopf in die Atme.
Die Nacht war kalt. Sie war sternklar wie die letzten Nächte, und Bindig sah wieder den Russen vor sich, an der Brücke. Er hörte seinen Schritt und sah ihn fallen, er sah den Mantel mit dem Blutfleck, dort, wohin er gestochen hatte. Alles drehte sich in seinem Schädel. Die Nahkampfschule und der Einsatzunterricht.
Er wußte es so deutlich, als habe eben erst Klaus Timm erklärt: und dann in die Niere.
Über das Koppel, das Messer ein wenig mit der Spitze nach unten. Bis zum Griff, in einem Zuge durchstechen, dann ein bißchen drehen, und es ist vorbei. Das überlebt keiner. Keine Angst, er schreit nicht! Er stöhnt höchstens einmal auf, aber nicht laut. Man packt ihn mit dem linken Arm um den Leib und läßt ihn langsam zu Boden sinken. Nicht fallen lassen! Das gibt Geklirr! Sie haben manchmal allerhand Zeug in den Taschen. Und die Gewehre scheppern. Das kann euer Tod sein. Los, 'ran an die Puppe! Bindig, was gibt's draußen vor dem Fenster zu sehen? Hier ist die Musik! Los, Bindig, 'ran an die Puppe! Ich will einen einwandfreien Stich sehen!"
Er hörte alles, und er sah den Russen an der Brücke, er sah den Russen an dem Munitionslager, den Russen vor der Funkstation, den am Flugplatzrand. Er sah sie alle und ihre Gesichter. Und dann sah er wieder das Messer. Dasselbe. Es steckte in dem Riß in der Fleischbüchse.
Ich bin ein Feigling, sagte er sich, Ich vertrage nichts mehr. Seit diesem letzten Mal an der Brücke vertrage ich überhaupt nichts mehr. Ich habe das Messer sorgfältig gereinigt und die kleine Scharte aus geschliffen. Das Messer ist einwandfrei, aber ich tauge nichts mehr. Ich übergebe mich, wenn ich eine aufgeschnittene Fleischbüchse sehe.
Er erhob sich langsam und ging über den Hof. Er wollte die Bilder loswerden. Im Flur wischte der Knecht den Inhalt des umgekippten Eimers auf. Es war Schweinefutter gewesen. Sie haben auch Schweine, dachte er. Sie sind reich. Sie brauchen unsere Fleischbüchsen nicht. Und trotzdem werden sie das Zeug allein essen müssen.
Der Knecht kroch auf dem Fliesenfußboden herum und grinste ihn an. Die Frau erschien in der Tür und sah ihm fragend entgegen. Zum erstenmal glaubte er so etwas wie Anteilnahme in ihren Augen zu sehen.
„Verzeihen Sie", sagte er unsicher, „ich habe Schaden angerichtet. Verzeihen Sie, bitte ..."
Die Frau gab die Tür frei und ließ ihn wieder in die Küche eintreten.
„Kommen Sie", sagte sie, „Sie sind nicht gesund. Sie haben zu lange das Soldatenessen gehabt und zuviel geraucht dabei, und wer weiß, was noch ... Setzen Sie sich, ich mache Ihnen einen Tee, der Ihren Magen in Ordnung bringt..."
Sie hatte einen Topf in der Hand. In der anderen eine Tüte mit Kräutern. Sie setzte den Topf mit Wasser auf den Herd und forderte Bindig erneut auf, sich zu setzen. Er blieb unschlüssig in der Mitte des Raumes stehen und sah der Frau zu.
„Was machen Sie?" fragte er.
„Tee", erwiderte sie, „aus bitteren Kräutern. Wermut. Er macht Sie in zehn Minuten gesund. Es ist das Beste für den Magen..."
Er trat zu ihr und legte seine Hand leicht auf die Tüte mit den Kräutern.
„Lassen Sie das", bat er, „ich brauche keinen Tee. Es ist nicht der Magen. Lassen Sie den Tee!" Er war noch immer sehr bleich im Gesicht.
„Sie sind jung", sagte die Frau mit einem Ton von Mitleid in ihrer Stimme, „Sie sind zu jung für diesen Krieg. Er wird Ihnen nicht nur den Magen ruinieren. Sie sind zu jung dafür."
Er nahm ihr die Tüte aus der Hand und setzte sich wieder an den Tisch. Sie ging hinter ihm her und hockte sich auf die Kante ihres Stuhles, die Hände unschlüssig im Schoß gefaltet.
„Mag sein, daß ich zu jung dafür bin", sagte er heiser, „aber es gibt Leute, die jünger sind als ich. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen Ungelegenheiten bereite
..."
Die Frau lächelte. Er sah zum erstenmal ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Er nahm es wahr wie eine Offenbarung. Er starrte sie an, und sein Blick hing
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